Entwicklungsziele: Grundursachen der Armut bekämpfen
Weniger Armut und höherer Lebensstandard sind Kernanliegen der Millenniums-Entwicklungsziele (MDGs). 2015 sollen sie durch neue Ziele abgelöst werden. Im Kampf gegen die grundlegenden Ursachen von Armut und Ungleichheit soll auch der ökologische Aspekt einbezogen werden, sagt der Schweizer Botschafter Michael Gerber.
Gerber koordiniert die Entwicklungs-Position der Schweiz für die Zeit nach 2015 auf nationaler (siehe Infobox unten) und internationaler Ebene. Die umstrittenen MDGs sollen abgelöst werden durch die so genannten Nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs), die alle drei Dimensionen nachhaltiger Entwicklung – also Wirtschaft, Umwelt, Soziales – ausgewogen berücksichtigen und auf alle Länder übertragen werden können.
swissinfo.ch: In weniger als 500 Tagen läuft die Zeit der MDGs ab. An den Millenniums-Entwicklungszielen wurde immer wieder Kritik geübt. Wie sieht Ihre allgemeine Einschätzung aus?
Michael Gerber: Es ist durchaus verständlich, dass es derart viele unterschiedliche Auffassungen über die MDGs gibt. Der hauptsächliche Erfolg der MDGs ist ein politischer. Es ist uns gelungen, Menschen auf der ganzen Welt zur Verringerung der Armut zu mobilisieren und riesige Schritte vorwärts zu machen in Bereichen wie Gesundheitsversorgung und Bildung. In Entwicklungsländern haben die Menschen vor Ort von den MDGs gehört. Das ist ein ziemlicher Erfolg.
Entwicklungsländer nahmen die Millenniums-Ziele ernst, entwickelten nationale Strategien zur Reduktion der Armut auf Basis der MDGs. Und Geberländer taten ihrerseits das Gleiche mit Blick auf ihre Strategien für die internationale Entwicklungszusammenarbeit.
Und dies führte zu konkreten Schritten nach vorn. Die Halbierung der Armut würde ich nicht eigentlich als den grössten Erfolg der MDGs bezeichnen, denn wir müssen ehrlich sein: Dieses Ziel wurde auch aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung in China, Indien und Südostasien bereits drei Jahre vor dem Termin von 2015 erreicht.
Doch gleichzeitig konnte die Armut fast überall verringert werden, sogar in Afrika. Natürlich gibt es, am unteren Ende der Liste, immer noch das Afrika südlich der Sahara, doch die Länder dort hatten einen ganz anderen Ausgangspunkt, als die Umsetzung der MDGs begann. Es ist nicht fair, Länder aufgrund gleicher Indikatoren zu vergleichen, die nicht von der gleichen Startlinie aus losgelegt hatten.
swissinfo.ch: Aber es gab nicht nur gute Nachrichten, oder?
M.G.: Es gibt andererseits auch jene Ziele, die bis 2015 nur schwer erreicht werden können, zum Beispiel die Gesundheitsziele 4, 5 und 6, trotz bedeutenden Erfolgen in gewissen Bereichen wie Malaria oder HIV/Aids. Es gab grosse Fortschritte, die meines Erachtens dank der Mobilisierung in diesen Bereichen erfolgten, doch die damals definierten Ziele im Sektor Gesundheit waren sehr ehrgeizig. So ist zum Beispiel eine Reduktion der Müttersterblichkeit um drei Viertel in 10 oder 15 Jahren ein sehr grosser Schub.
Mit den SDGs und einem neuen globalen Rahmen versuchen wir, die drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung besser zu balancieren: Neben der sozialen Entwicklung, die mit den MDGs ziemlich erfolgreich angegangen wurde, gehören die wirtschaftliche und die ökologische Dimension dazu. Diese zwei Dimensionen, in den MDGs vernachlässigt worden waren, müssen besser mit einbezogen werden. Verschiedene Umweltaspekte waren zwar in einem Ziel vereint worden (MDG-Ziel 7), doch dieser «Silo-Ansatz» war nicht erfolgreich.
swissinfo.ch: Wie werden sich die SDGs sonst noch von den MDGs unterscheiden?
M.G.: Es braucht einen Paradigmenwandel in Bezug auf Definition und Umsetzung der Ziele. Dies muss mit einer ganzheitlicheren Sicht auf internationaler, nationaler und lokaler politischer Ebene geschehen.
Zudem waren die MDGs definiert worden, um die Symptome der wirklichen Probleme anzugehen, mit denen wir konfrontiert waren, statt die zu Grunde liegenden Ursachen. Die Tatsache, dass die Müttersterblichkeit in der Welt so hoch ist, ist keine Ursache, sondern Folge der ungleichen Entwicklung.
Dieses Mal werden wir unsere Aufgaben besser erledigen und die zu Grunde liegenden Ursachen von Armut und Ungleichheit bekämpfen müssen. Und dies kann nicht mit einem «Silo-Ansatz» geschehen. Manchmal ist es besser, spezifische Krankheiten zu behandeln, weil man gute Resultate erzielt, aber wenn dies nicht in einem breiteren Kontext geschieht, der auch soziale, wirtschaftliche oder ökologische Aspekte einbezieht, wird man einen neuen Ausbruch nicht verhindern können.
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Ein anderer Aspekt ist die Vernachlässigung von Themen wie Gouvernanz und Frieden. Auch in diesem Bereich haben die MDGs versagt. Gouvernanz ist nun im neuen SDG-Ziel 16 [Vorschlag der OWG] aufgeführt. Obschon wir in diesem Bereich bei gewissen Zielvorgaben gerne etwas anspruchsvollere Ansätze gesehen hätten, ist es eine bedeutende Errungenschaft, dass dieses Ziel aufgenommen werden konnte. Die Gouvernanz-Aspekte sollten aber zum Beispiel eigentlich stärker betont werden, aber es war das Beste, was wir in diesen schwierigen politischen Diskussionen erreichen konnten. Zumindest gibt es spezifische Zielvorgaben was Korruption, Bestechung, Entwicklung transparenter Institutionen, soziale Inklusion und politische Partizipation angeht.
swissinfo.ch: Eine bedeutende Kritik am Vorschlag für die neuen SDGs ist, dass die Zahl der Ziele und Zielvorgaben unüberschaubar sei.
M.G.: Wir hätten es vorgezogen, wenn es weniger Ziele wären, denn 17 Ziele mit 169 Zielvorgaben, die es umzusetzen gilt, ist ein schwieriges Unterfangen. Und es wird schwierig werden, dem allgemeinen Publikum all diese Ziele zu kommunizieren und verständlich zu machen.
Wir hätten lieber nur 10 oder 12 Ziele, möchten aber die Substanz der 17 Ziele behalten. Einige erwarten, dass UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon eine deutliche Verringerung der Ziele vorschlagen wird. Ein solcher Vorschlag Ban Ki-moons zu einer Reduktion würde aber auch ein politisches Risiko in sich bergen, denn die 17 Ziele werden von vielen Ländern stark unterstützt. Wir werden sehen, die Diskussion wird aber schwierig werden.
swissinfo.ch: Während die MDGs als Zielvorgaben gegen die Armut bezeichnet wurden, umgesetzt von den armen Ländern und finanziert von den reicheren, werden alle Staaten verpflichtet sein, die SDGs bis ins Jahr 2030 umzusetzen. Was bedeutet das für die Schweiz?
M.G.: Die Schweiz ist in einem parallel laufenden Prozess dabei, ihre nationale Strategie für nachhaltige Entwicklung zu überarbeiten, die alle vier Jahre erneuert wird. Diese wird das Hauptinstrument sein, das wir zur nationalen Umsetzung der SDGs nutzen werden. Das Bundesamt für Raumentwicklung hat bei diesem Prozess die Federführung.
Es werden spezifische Bereiche definiert, die für die Schweiz wichtig sind und die von der OWG vorgeschlagenen 17 SDGs reflektieren. Dabei wird es um natürliche Ressourcen wie Landwirtschaft und Biodiversität gehen, um Konsum- und Produktionsmuster, Energie- und Klimapolitik, Mobilität und Raumplanung oder Gesundheit. In Bereichen, in denen wir schon gut positioniert sind, wie beispielsweise mit unserer neuen Politik zur Energiewende oder mit geplanten Innovationen im Gesundheitssektor werden wir jedoch wahrscheinlich unsere nationalen Strategien nicht fundamental anpassen müssen, da wir in Bezug auf eine nachhaltige Entwicklung auf ziemlich gutem Weg sind.
swissinfo.ch: Werden die 17 Ziele so etwas sein wie ein Menu idealer Grundsätze, aus denen die Länder eine Auswahl treffen können?
M.G.: Auf nationaler Ebene wird es Flexibilität geben, und das brauchen wir auch, denn es wäre nicht möglich, auf internationaler Ebene eine Vereinbarung abzuschliessen, wenn es ein striktes Rahmenabkommen wäre, das auf nationaler Ebene umgesetzt werden müsste. Nicht jedes Ziel ist für jedes Land gleich wichtig, es wird vom Kontext abhängen.
Es soll aber auch ein Rechenschaftsmechanismus eingerichtet werden, in dessen Rahmen die Staaten auf globaler Ebene berichten werden müssen, wie sie die SDGs national umsetzen – in welchen Bereichen, mit welchen Resultaten und so weiter. Es wird also sehr wichtig sein, einen effizienten Überprüfungs- und Berichterstattungsmechanismus zu etablieren.
Ziel der Schweiz ist es, einen ähnlichen Mechanismus einzurichten wie die Universelle Periodische Überprüfung der einzelnen Staaten im Rahmen des [in Genf angesiedelten] UNO-Menschenrechtsrats. Es gibt auch Widerstand gegen solche Ideen, aber ich denke, dies ist ein gutes Modell.
Der Prozess in der Schweiz
Die neuen SDGs sollen universell sein, anwendbar auf jedes Land der Welt, nicht nur auf die armen Staaten. In der Schweiz fand unter Leitung der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) eine breit angelegte Post-2015-Konsultation statt, an der die Öffentlichkeit, die Zivilgesellschaft, der Privatsektor und die Wissenschaft beteiligt waren.
Am 25. Juni 2014 verabschiedete die Regierung (Bundesrat) die Post-2015-Position der Schweiz. Vorgelegt wurde das Dokument auch den Aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments, grünes Licht wird gegen Mitte September erwartet.
Thematisch hat die Schweiz 16 Schlüsselbereiche skizziert. Besonders Wert gelegt wird auf spezifische Ziele in Bereichen wie Wassersicherheit, Gesundheit, nachhaltiger Frieden und Sicherheit, soziale Inklusion, Gleichstellung der Geschlechter, Frauenrechte, Selbstverantwortung und Selbstbestimmung [Empowerment] von Frauen und Mädchen. Zudem will die Schweiz sich einsetzen für einen starken Fokus auf Themen wie Migration und Entwicklung, Verringerung von Katastrophenrisikos sowie nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion.
SDG-Zeitachse
2015 läuft die Frist für die MDGs ab. Die Millenniumsziele sollen abgelöst werden durch eine neue Agenda für Nachhaltige Entwicklung. Eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe, die Open Working Group on Sustainable Development Goals (OWG), hat dazu einen Vorschlag ausgearbeitet: Er umfasst 17 Ziele mit insgesamt 169 spezifischen Zielvorgaben. Diese neue Agenda soll auf das MDG-Projekt folgen und bis 2030 umgesetzt werden.
Der OWG-Vorschlag richtet sich an die UNO-Generalversammlung und wird zusammen mit anderen Ideen der Arbeitsgruppe im Verlauf der nächsten 12 Monate diskutiert werden. Ein neues Rahmenabkommen für die Zeit nach 2015 (post-2015) inklusive einem Set von nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals, SDGs) soll im September 2015 von den Staats- und Regierungschefs verabschiedet werden. Die Schweiz hatte in der OWG mitgemacht und sich dabei einen Sitz mit Deutschland und Frankreich geteilt.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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