Schweizer Volksschule als Inspiration für Entwicklungsprojekte
Die Schweizer Berufsbildung geniesst in der Entwicklungszusammenarbeit einen guten Ruf. Weniger bekannt sind Errungenschaften der obligatorischen Schulbildung wie deren Mehrsprachigkeit oder dezentrale Organisation. Diese Expertise will die Schweiz künftig stärker nutzen und in den Dienst ihrer Partnerländer stellen.
In der Mongolei unterstützt die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) die kompetenzorientierte Lehrplanreform des Bildungsministeriums: Die Schüler und Schülerinnen sollen sich ökologisches, politisches, soziales und ökonomisches Grundwissen aneignen.
Die Schule ist auch in der Schweiz ein Ort, wo Kinder sich mit Themen der nachhaltigen Entwicklung auseinandersetzen und den Umgang mit natürlichen Ressourcen erlernen. Diese Alltagsorientierung ist eine von fünf zentralen Stärken des Schweizer Schulsystems, die dem Land im internationalen Vergleich eine Vorreiterrolle zukommen lassen und welche die Entwicklungszusammenarbeit inspirieren.
5 Stärken des Schweizer Schulsystems
- Hoher Stellenwert und gute Qualität der Volksschule
- Dezentrale Bildungsorganisation ermöglicht lokal angepasste Lösungen
- Mehrsprachigkeit
- alltagsorientierter Unterricht, Erwerb relevanter Kompetenzen fürs Leben
- Vorbereitung aufs Berufsleben und Nachholmöglichkeiten von Unterrichtsstoff
Diese und weitere Merkmale hat das Institut für Internationale Zusammenarbeit in Bildungsfragen (IZBExterner Link) der PH Zug im Auftrag der DEZA zusammengetragen, im Hinblick auf einen möglichen Mehrwert dieser Eigenheiten für die internationale Zusammenarbeit.
Ein Bericht hat diese Stärken auf einen möglichen Mehrwert für die internationale Zusammenarbeit geprüft. swissinfo.ch sprach mit DEZA-Bildungsexpertin Sabina Handschin über die Erkenntnisse.
swissinfo.ch: Ist die Schweiz mit ihren fünf zentralen Stärken ein Spezialfall im Vergleich zu anderen Ländern Europas und deren Entwicklungszusammenarbeit?
Sabina Handschin: In diesen fünf Bereichen hat die Schweiz in ihrer Entwicklungszusammenarbeit gegenüber anderen Ländern spezifische Vorteile, auch wenn andere Länder wie beispielsweise Deutschland, England, Norwegen oder Frankreich ebenfalls Entwicklungsprojekte im Bildungsbereich unterstützen. Denn die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in Grundbildung* kann hier auf spezifische Erfahrungen aus dem eigenen Schulsystem zurückgreifen.
swissinfo.ch: Was heisst das konkret?
S.H.: Nehmen wir das Beispiel der Mehrsprachigkeit: Frankreich investiert auch in Projekte zur Förderung der Mehrsprachigkeit in seinen Partnerländern. Das nationale Schulsystem Frankreichs ist aber nur einsprachig. Die Schweiz mit ihren vier Unterrichtssprachen, je nach Region, des zweisprachigen Unterrichts an zweisprachigen Orten und der gezielten Förderung weiterer Sprachen kann ihren Partnerländern hier deshalb mehr Erfahrung bieten.
swissinfo.ch: Eine Evaluation zum Engagement der DEZA im Bereich der Grundbildung hat 2016 bereits gezeigt, dass sich die Entwicklungszusammenarbeit im Bildungsbereich implizit vom Schweizer Schulsystem inspirieren lässt und da Wirkung zeigt. Was bringt der jüngste Bericht nun Neues?
S.H.: Es handelt sich explizit um einen neuen Fokus: Die DEZA setzt sich zum ersten Mal intensiv mit der Frage auseinander, wie die Entwicklungszusammenarbeit konkret vom Schweizer Schulsystem profitieren kann. Die Analyse antwortet mit einer Übersicht auf diese Frage und schafft konzeptuelle Klarheit für unsere weitere Arbeit.
Erstes Treffen Mitte Monat
Welchen Bildungsherausforderungen begegnet die DEZA in der Internationalen Zusammenarbeit, mit denen auch Schulen und Bildungsbehörden in der Schweiz konfrontiert sind? Welche Aspekte unseres föderalistischen und mehrsprachigen Schulsystems können auch für die DEZA-Partnerländer interessant sein?
Am 12. September lädt die DEZA Vertreter und Vertreterinnen der Schweizer Bildungslandschaft, der internationalen Zusammenarbeit und «andere interessierte Personen» zu einer öffentlichen Veranstaltung in Bern ein, um diese und andere Fragen zu besprechen. Auch soll anlässlich dieser Veranstaltung die IZB-Studie der Öffentlichkeit präsentiert werden.
swissinfo.ch: Was heisst das denn nun konkret für die Arbeit der DEZA?
S.H.: In Ergänzung zu den bereits bestehenden Partnerschaften mit Vertretern aus der Entwicklungszusammenarbeit will die DEZA nun einen regelmässigen Austausch mit den Verantwortlichen des Schweizer Schulsystems aufbauen. Die Idee ist es, in naher Zukunft neue Partnerschaften beispielsweise mit Kantonen, Gemeinden oder gar einzelnen Schulen einzugehen, um die Schweizer Expertise in den Dienst unserer Partnerländer zu stellen.
swissinfo.ch: Das tönt fast, als wolle die DEZA nun im Schweizer Schulsystem investieren.
S.H.: Nein, auf keinen Fall, das ist nicht unser Mandat. Es geht im Übrigen auch nicht um den Export des Schulsystems Schweiz. Wir wollen den Blick nach innen richten, um besser abschätzen zu können, wo und in welcher Form es sinnvoll ist, Erfahrungen des Schweizer Schulsystems für unsere Arbeit zu nützen. Wir wollen die Wirksamkeit des Schweizer Engagements im Bildungsbereich dank Swissness und Wissensaustausch stärken. Es geht um Inspiration und um Austausch zwischen Experten aus der Schweizer Schulbildung, der DEZA, Entwicklungspartnern und den Bildungsverantwortlichen aus unseren Partnerländern.
swissinfo.ch: Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
S.H.: Ich war im Mai im Libanon. Das öffentliche Schulsystem in dem Land ist äusserst schwach. 70% der libanesischen Kinder gehen in Privatschulen, weil die öffentlichen Schulen so schlecht sind. Die Verlierer sind die Kinder der ärmsten Bevölkerungsschichten, die sich keine Privatschule leisten können. Die vielen Flüchtlingskinder aus dem benachbarten Syrien, die ins öffentliche Schulsystem eingeschult werden, machen die Situation nicht einfacher. Bei einem Treffen mit Vertretern des Bildungsministeriums wurde die Schweiz um einen verstärkten Austausch im Bereich der öffentlichen Schulbildung gebeten. Das Ministerium wollte wissen, wie die Schweiz inklusive, qualitative und kindergerechte öffentliche Schulen gewährleistet.
«Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder eine gute Schulbildung erhalten, und Bildungsbehörden, dass sie ihren Auftrag wahrnehmen können.»
swissinfo.ch: Die obligatorische Schulbildung hat in der Schweiz eine lange Tradition und gesellschaftlich einen hohen Stellenwert. Nach Luxemburg investiert die Schweiz laut Angaben der OECD am meisten pro Schüler. Sind die Grundvoraussetzungen nicht einfach zu verschieden?
S.H.: Der Besuch von hunderten Schulen in afrikanischen Ländern und im Nahen Osten haben mir gezeigt: Ob in der Schweiz oder anderswo, die Grundanliegen und Herausforderungen für eine chancengerechte Schulbildung sind überall dieselben. Ob in Mali, Niger, Afghanistan oder eine syrische Flüchtlingsfamilie in Jordanien: alle Eltern wollen, dass ihre Kinder eine gute Schulbildung erhalten, und Bildungsbehörden, dass sie ihren Auftrag wahrnehmen können.
Klar sind die Lebensstandards und die Budgets der Schweiz und ihrer Partnerländer nicht vergleichbar. Die Rahmenbedingungen sind überall anders, deshalb ist es wichtig, dass Ansätze den lokalen Gegebenheiten angepasst werden. Das Schweizer Schulsystem in seiner Diversität bietet da ein gutes Beispiel: sein föderalistischer Aufbau, die lokale Verankerung, die Mitsprache der Bevölkerung und Eltern beispielsweise zeichnen unser System im internationalen Vergleich aus.
Dies kann Bildungsbehörden beispielsweise in Afghanistan inspirieren, wo die DEZA ein Programm zur Stärkung der dezentralen Schulaufsicht sowie der Elternbeteiligung im Schulalltag unterstützt.
Bildung – ein Schwerpunkt
Bildung ist ein Themenschwerpunkt in der Botschaft für die Internationale Zusammenarbeit 2017-2020 der Schweiz. Er umfasst sowohl die Grund- als auch die Berufsbildung. Das Parlament beauftragte die DEZA, ihr Engagement in diesem Bereich um 50%, das heisst, auf rund 660 Millionen Schweizer Franken, zu verstärken.
2017 lancierte die DEZA ihre neue BildungsstrategieExterner Link. Diese umschreibt, wie dieses Ziel im Rahmen des bilateralen und multilateralen Engagements der Schweiz erreichen will.
*Unter Grundbildung versteht man die obligatorische Schulbildung (Primar- und Sekundarstufe I).
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