Der demokratische Aufbruch in der Türkei bleibt aus
Langzeitpräsident Recep Tayyip Erdogan steht vor der Wiederwahl, derweil die Opposition – einmal mehr – über die Bücher muss. Für die türkische Demokratie sieht es, so der Schweizer Historiker Hans-Lukas Kieser, düster aus.
Am öffentlichen Interesse hat es bei den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen nicht gefehlt: Im In- und Ausland beteiligten sich über 55 der 64 Millionen Stimmberechtigten an den Wahlen. Die Beteiligung von fast 88% liegt somit fast sechs Prozentpunkte über dem langjährigen Durchschnitt.
Seit über zwanzig Jahren wird das Nato-Land an der Grenze von Europa zu Asien von einem Mann und einer Partei dominiert: Der bald 70 Jahre alte Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch-konservative Partei schafften es in den Wahlen vom 14. Mai 2023 einmal mehr als erste über die Zielgerade. Im neugewählten Parlament wird Erdogans AKP zusammen mit ihren rechtsnationalistischen Koalitionspartnern die Mehrheit der 600 Sitze halten.
Das grosse Interesse an diesen oft als «Schicksalswahlen» bezeichneten Urnengängen zeigt sich auch in der grossen türkischen Diaspora rund um den Erdball – und das auf sehr unterschiedliche Weise: So holte Präsident Erdogan in Libanon fast 95% der Stimmen, während er in Estland weniger als 4% erhielt.
Auch in der Schweiz, wo fast 130’000 türkische Staatsbüger:innen leben, wurde gemäss der türkischen Botschaft in Bern eine «Rekordbeteiligung» registriert: 56,7% der registrierten Wahlberechtigten gaben zwischen dem 29. April und dem 7. Mai in einem drei Wahllokale in Zürich, Bern oder Genf ihre Stimme ab.
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Wie schon bei früheren türkischen Wahlen und Abstimmungen stimmten die «Schweizer» Wahlberechtigten dabei anders als die Mehrheit in der Türkei: so sprachen sich 57% (Türkei: 45%) für den Oppositionskandidaten Kemal Kilicdaroglu aus, während Amtsinhaber Erdogan lediglich auf 40% (Türkei: 49%) kam.
Vom 20. bis zum 24. Mai werden nun die türkischen Wahllokale für den zweiten Wahlgang auch in der Schweiz wieder offen haben.
Für den Schweizer Türkei-Kenner Hans-Lukas Kieser sind nun nach den Wahlen vom 14. Mai die Chancen für einen «demokratischen Aufbruch», wie er von der Opposition in Aussicht gestellt worden war, «kaum mehr gegeben».
Im Gespräch mit SWI swissinfo.ch weist Kieser darauf hin, dass in der Stichwahl vom 28. Mai die Stimmen des ausgeschiedenen dritten Kandidaten, dem rechtsnationalistischen Sinan Ogan, «vor allem Erdogan zugutekommen werden».
SWI swissinfo.ch: Herr Kieser, hat Sie dieses Resultat überrascht?
Hans-Lukas Kieser: Das Resultat hat mich nicht völlig überrascht, aber doch ernüchtert. Umfragen unterschätzen gerne die eher medienscheuen konservativen und autoritätsgläubigen Kräfte im Lande. Daher lauteten sie alle anders, indem sie Kilicdaroglu vorne sahen. Ernüchterung deshalb, weil weder die verfehlte Finanzpolitik noch das antidemokratische Verhalten des Präsidenten von der Hälfte oder einer grossen Minderheit der Stimmberechtigten abgestraft wurde.
Die politisch motivierten Massenverhaftungen, die Ausschaltung demokratisch gewählter Stadtregierungen durch zentrale Verwalter und Korruption, besonders der klientilistische Umgang mit Bauvorschriften mit katastrophalen Folgen beim Erdbeben im Februar – all das liessen viele Türkinnen und Türken dem verehrten «Führer», reis, durchgehen.
Bei den gestrigen Wahlen wurde eine Beteiligung von weit über 80% registriert. Woher kommt diese hohe Aktivität in einem Land, in dem die Demokratie einen schweren Stand hat?
Dies spiegelt einerseits den äusserst lebhaften, da tatsächlich politisch höchst bedeutungsvollen Wahlkampf. Viele Menschen haben sich mobilisieren lassen.
Andererseits darf man sich historisch betrachtet nicht täuschen lassen: Auch die Autokraten des 20. Jahrhunderts haben Wahlkämpfe und massgeschneiderte Referenden mit oft hoher Wahlbeteiligung zu ihren Gunsten wenden können. Es ist für uns in der Schweiz ja eine Binsenwahrheit, dass Wahlen allein bei weitem noch keine Demokratie ausmachen.
Nach einem ruhigen Wahltag gab es in der Wahlnacht viel Aufregung in beiden politischen Lagern über die Berichterstattung der Resultate. Hat das Tradition – oder spiegeln sich hier grundsätzliche Probleme im Wahlprozess wider?
Die Stimmabgabe lief von aussen gesehen weitgehend regulär ab. Aber auch die Aufregung über die Auszählung der Stimmen hielt sich in Grenzen, zumal weder Kilicdaroglu noch Erdogan sich vorzeitig als Sieger ausriefen.
Das tiefgreifende grundsätzliche Problem ist das gegenwärtige undemokratische System der Türkei, das weder Freiheit in Politik, Presse und Wissenschaft noch eine tatsächliche Gewaltenteilung kennt. Der Wahlausgang ist für Zehntausende von politischen Gefangenen desolat.
Bleibt nun der von der Opposition versprochene demokratische Aufbruch aus?
Was tatsächlich auszubleiben scheint, ist nicht nur die von Kilicdaroglu etwas vollmundig angekündigte schöne Zeit eines demokratischen Aufbruchs. Sondern überhaupt ein politisches In-sich-Gehen nach einem Jahrzehnt schwindelerregender autokratisch-parteistaatlicher Entwicklung.
Um das verstehen oder historisch nachvollziehen zu können, muss man in die stark autoritär und identitär, nämlich türkisch-islamisch geprägte Gründungsgeschichte der Republik Türkei zurückgehen.
Die moderne Türkei wurde vor hundert Jahren im Vertrag von Lausanne «geboren». Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch, die Monate, die zu diesem Vertrag führten, als eine Zeit, in der die «Demokratie starb»*. Würde ein Sieg des Oppositionskandidaten in der Stichwahl zu einer «Neugeburt der Demokratie» im Land führen?
Ein klarer Sieg der Opposition hätte die Türe zu einem innovativen Weg Richtung Demokratie öffnen können. Allerdings bräuchte es dafür auch das vernünftige Arrangement mit der vorwiegend kurdischen HDP, neuer Name Yeşil Sol. Sie ist die einzige Partei im Parlament, die demokratischen Standards jenseits eines identitären Nationalismus genügt.
Vor 100 Jahren, während der Konferenz von Lausanne, wurde die Hoffnung auf Demokratie einem Interessenarrangement mit den Westmächten und der Weichenstellung zur kemalistischen Diktatur geopfert. Zu einer vollwertigen Demokratie hat die Türkei seither nie werden können, auch nicht nach Einführung des Mehrparteiensystems Mitte des 20. Jahrhunderts. Und für eine solche Neugeburt scheint auch jetzt die Zeit noch nicht reif zu sein.
Wie könnte ein solches «vernünftiges Arrangement» aussehen?
Ein Arrangement mit Yeşil Sol hiesse, elementare Anliegen wie Gebrauch und Unterricht der kurdischen Sprache, die Anerkennung kurdischer Unterdrückung durch den Staat, darunter der Dersim-Genozid von 1938, und natürlich, den Friedensprozess mit der PKK und den SDF (Syrian Democratic Forces) pragmatisch anzupacken. Das wäre Kilicdaroglu mit einigen in der CHP und am Sechsertisch durchaus zuzutrauen.
Der grosse Stolperstein ist und bleibt aber für viele auch am Sechsertisch, dass sie nicht bereit sind, sich vom autoritären Gründungsnationalismus und dessen Helden zu emanzipieren, der die autochthonen Nichttürk:innen in Anatolien nicht als gleichwertig anerkennt, ja ihnen feindselig begegnet.
*Kieser, Hans-Lukas. 2023. When Democracy Died: The Middle East’s Enduring Peace of Lausanne. Cambridge University Press.
Editiert von Marc Leutenegger.
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