Eritreer nehmen für ein neues Leben viel in Kauf
Eritreer flüchten derzeit in Scharen vor einem der repressivsten Regimes der Welt. 3356 Personen haben 2011 in der Schweiz um Asyl angesucht. Sie sind damit die grösste Gruppe aller Asylsuchenden. Ein Besuch in einem Treffpunkt.
Die starke Zunahme der Asylgesuche in der Schweiz im letzten Jahr um 45 Prozent auf 22‘551 ist unter anderem auf die wachsende Zahl von Flüchtlingen aus Eritrea zurückzuführen.
Damit kommt ein Asylsystem unter massiven Druck, das auch in der Öffentlichkeit immer mehr wegen seiner Kapazitäten und Effizienz kritisiert wird.
Überall in der Schweiz wurden Kantone und Gemeinden verpflichtet, kurzfristig provisorische Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, um Neuankömmlinge unterzubringen – gegen starken Widerstand in den betroffenen Gemeinden.
Während die Behörden versuchen, die Grundbedürfnisse der Asylsuchenden sicherzustellen, bieten Freiwilligen-Organisationen Unterstützung und Dienstleistungen an.
swissinfo.ch besuchte einen Treffpunkt für Asylsuchende, Flüchtlinge und Interessierte in Aarau, um mehr über das Schicksal von Eritreern in der Schweiz zu erfahren.
Unter Militärherrschaft
Viele von ihnen sind Deserteure oder Wehrdienstverweigerer. Andere sind aus politischen oder religiösen Gründen geflüchtet. Der letzte Bericht der Menschenrechts-Organisation Human Rights Watch beschuldigt die Einparteien-Regierung des autoritären Isayas Afewerki, er missbrauche das Militär, um das Land unter seiner Knechtschaft zu halten.
An einem Tisch sitzt Amanuel. Er hatte, als er das Aufgebot für die Armee erhielt, die Papiere zerrissen und sich versteckt. Er wusste, was ihn erwartete: Er hat ältere Brüder.
«Man erhält vielleicht alle zwei Jahre einmal einen Monat Urlaub und bleibt bis 50- oder 60-jährig in der Armee. Das war unmöglich für mich. Also ging ich in den Wald und versteckte mich dort acht Monate lang», erzählt er.
Dank der Hilfe eines Freundes fand Amanuel einen Weg, um über die Grenze in den Sudan zu gelangen. 2008 kam er in der Schweiz an.
Der 24-Jährige, der heute offiziell anerkannter Flüchtling ist, lebt in Aarau. Er ist ein oft gesehener Besucher im so genannten «contact»-Treffpunkt des Netzwerks Asyl Aargau. Für uns übersetzt er die Aussagen seiner Landsleute aus dem Tigrinya, das in Äthiopien und Eritrea gesprochen wird.
Wieder zusammen
Es ist ein freundlicher Ort, mit Leuten aus allen möglichen Ländern, die an den Tischen sitzen, Sprachkurse besuchen, zusammen reden, ihre Emails checken oder einfach nur einen Kaffee trinken.
Eine Eritreerin, die an diesem kalten Februartag mit uns redet, ist Helen, eine Mutter von fünf Kindern, die uns von ihrem schönsten Tag im Leben erzählt.
«Ich werde das nie vergessen: Es war, wie wenn ich in einem dunklen Raum gesessen wäre, und plötzlich kam das Licht.» Helen meint damit jenen Tag, als ihre beiden ältesten Kinder in der Schweiz ankamen, nachdem sie während drei Jahren von den Eltern getrennt gewesen waren.
Helen und ihr Mann hatten das Land aus politischen Gründen verlassen. Sie nahmen ihre zwei jüngsten Kinder im Alter von zweieinhalb Jahren und 11 Monaten mit auf eine äusserst strapaziöse Reise quer durch die Sahara. Dann übersetzten sie von Libyen nach Italien.
Mit Hilfe der Schweizer Hilfsorganisation Caritas waren sie schliesslich in der Lage, ihre beiden älteren Kinder, die sie bei einem Onkel im Sudan zurückgelassen hatten, in die Schweiz zu holen. Ihr fünftes Kind kam in der Schweiz zur Welt.
Die Reisekosten werden in der Regel vom Bundesamt für Migration (BFM) übernommen, vorausgesetzt, die Dokumentation ist korrekt. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe, eine Nichtregierungs-Organisation, verfügt ebenfalls über einen Fonds für Familienzusammenführungen.
Von den 994 Anträgen auf Familienzusammenführung, die 2011 von Eritreern an das BFM gestellt wurden (bis 15. Dezember), wurden mehr als zwei Drittel angenommen, 190 Fälle sind noch hängig.
Ein Monat in der Wüste
Auch Amanuel hatte den Weg durch die Sahara gewählt. Die Reise dauerte einen Monat. Es sei unglaublich hart gewesen, erzählt er. Er sei einer von 40 Männern und Frauen gewesen, die hinten auf einem Pickup zusammengepfercht waren.
«Das Auto ging kaputt. Wir hatten nicht viel zum Essen und Trinken. Jeder hatte einen Wassertank mit 20 Litern, doch wir schütteten etwas Benzin hinein. Dieser Geschmack verhinderte, dass wir zu viel davon tranken.»
«Zwei bis drei» Personen seien auf dem Weg gestorben, er weiss nicht mehr, wie. «Wenn Menschen sterben, will ich das nicht wissen, es ist schwierig. Vermutlich sind sie vor Hunger und Durst gestorben.»
Die Überfahrt von Libyen auf die italienische Insel Lampedusa habe ein libyscher Mittelsmann organisiert. «Es hatte viel zu wenig Platz, doch glücklicherweise schafften wir es nach Lampedusa. Auf diesen kleinen Booten sind 25 bis 30 Leute. Wenn man Glück hat, schafft man es, wenn nicht, verschwindet man im Wasser.»
Exil-Steuer
Doch auch wer es tausende Kilometer weg von seinem Heimatland geschafft hat, bleibt häufig immer noch im Griff des dortigen Regimes.
Ein BFM-Bericht aus dem Jahr 2010 über somalische und eritreische Menschen in der Schweiz erwähnte eine obligatorische Einkommenssteuer von 2 Prozent für Eritreer im Exil, die von der eritreischen Botschaft erhoben wird.
«Die Steuer wird im Namen der nationalen Entwicklung eingezogen und stellt für die Regierung eine enorme Einnahmequelle dar», heisst es im Bericht.
Wer diese Steure nicht entrichtet, hat kein Recht mehr auf Landkauf, Erbbezug oder andere Geschäfte in Eritrea und erhält auch keine konsularischen Dienste. Die Mehrheit der Eritreer in der Schweiz bezahlen diese Steuer. «Bei den Neuankömmlingen (nach 2001eingewandert) hingegen scheint sich ein beträchtlicher Teil zu weigern, die Steuer zu bezahlen», hält der Bericht fest.
Es sind Leute wie Amanuel: «Ich bin nicht dumm. Warum sollte ich das tun? Ich weiss nicht, warum andere es machen. Vielleicht denken sie an die Zukunft, an eine Rückkehr nach Eritrea. Doch wenn es so bleibt wie es heute ist, will niemand zurück.»
Derweil untersucht die Bundeskriminalpolizei laut Medienberichten Aussagen, wonach es innerhalb der eritreischen Volksgruppe durch vom Regime eingeschleuste, als Asylbewerber getarnte Spitzel, zu Erpressung und Einschüchterung gekommen sein soll.
Berechtigt oder nicht: die Angst vor Afewerkis Regime ist derart tief im kollektiven Bewusstsein verankert, dass sie viele Flüchtlinge bis in die Schweiz verfolgt.
Das Land ist seit 1993 unabhängig, doch Kämpfe mit Nachbar Äthiopien entlang der international anerkannten Grenze – die von Äthiopien angefochten wird – dauern an.
Der ehemalige Freiheitskämpfer Isayas Afewerki hat das Land in einem hohen Masse militarisiert und die Macht auf sich und seine Partei PFDJ (People’s Front for Democracy and Justice) konzentriert.
In Eritrea gibt es keine Presse- oder Redefreiheit.
Einwohner leiden unter willkürlichen und unbefristeten Verhaftungen, Folter, unmenschlichen Haftbedingungen, Einschränkungen der Rede-, Bewegungs- oder Religionsfreiheit sowie einer unbestimmt langen Wehrpflicht und Zwangsarbeiten für den Staat.
Der Militärdienst wird nach Belieben verlängert und dauert oft ein ganzes Arbeitsleben. Der Lohn reicht kaum zum Überleben.
(Quelle: Human Rights Watch: World Report 2012)
Während ein Grossteil der Flüchtlinge im nahen Sudan bleibt oder über den Golf von Aden Richtung Osten flieht, versuchen einige nach Europa zu gelangen, indem sie durch den Sudan und Libyen die Wüste Sahara durchqueren und per Boot über das Mittelmeer fahren.
Weltweit leben mehr als eine Million Eritreer ausserhalb ihres Landes.
Drei Viertel der Asylgesuche von eritreischen Personen wurden letztes Jahr angenommen.
Das Bundesgericht hat entschieden, dass Deserteure aus der Armee Asyl erhalten.
Laut dem BFM werden Anträge Fall für Fall bearbeitet. Von jenen, denen kein Asyl gewährt wird, erhalten einige provisorisches Aufenthaltsrecht.
Die anderen werden angewiesen, das Land innerhalb einer bestimmten Zeit zu verlassen. Sie werden jedoch nicht ausgeschafft.
2011 betrug der Anteil der eritreischen Asylgesuche in der Schweiz 15%.
Mit 2653 Gesuchen ist es die höchste Zahl seit 10 Jahren und doppelt so hoch wie im Januar 2011.
Nationalitäten: Eritrea (370), Serbien (315), Tunesien (249).
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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