Doris Leuthard: Schweizer Regierung verliert ihr strahlendes Gesicht
Bundesrätin Doris Leuthard hat ankündigt, nach zwölf Jahren in der Regierung zurückzutreten. Die Umwelt- und Verkehrsministerin wird als kompetente und joviale Magistratin in Erinnerung bleiben, aber auch als Mutter der Energiestrategie 2050, der umfangreichsten Reform, die vom Schweizer Stimmvolk in jüngster Zeit gutgeheissen wurde.
«Schon im März habe ich in den Medien gelesen, dass ich zurücktrete. Nun lese ich, dass dies diese Woche sein soll. Aber es ist nicht der Fall. Sie können weiter spekulieren», sagte Doris Leuthard am 11. Juni im Rahmen einer Pressekonferenz. Nun hat sie heute Donnerstag, 27. September, ihren Rücktritt aus der Landesregierung bekanntgegeben.
Damit geht für die 55-Jährige eine aussergewöhnliche politische Karriere zu Ende, allein schon für die hohe Geschwindigkeit, mit der sie die politische Karriereleiter auf kantonaler und eidgenössischer Ebene hochgeklettert ist.
Mit Leuthard wird nicht nur eine der beliebtesten Politikerinnen des Landes abtreten, sondern auch ein Exekutivmitglied, das dem Bundesrat deutlich den eigenen Stempel aufgedrückt hat. Das ist aussergewöhnlich, weil in der Schweiz Regierungsmitglieder durch die Notwendigkeit, Kompromisse eingehen und einen Konsens finden zu müssen, meistens an Profil verlieren.
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Das politische Gleichgewicht basiert auf einer Zauberformel
Blendende Karriere
Doris Leuthard stammt aus Merenschwand im Kanton Aargau und stieg erst relativ spät in die Politik ein. Nach ihrem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Zürich arbeitete sie zuerst in einer Anwaltskanzlei.
Mit 34 Jahren, im Jahr 1997, beginnt ihre politische Karriere, als sie für die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) ins Aargauer Kantonalparlament gewählt wird. Bereits zwei Jahre später gelingt ihr der Sprung in die nationale Politik. Sie wird mit dem besten Ergebnis aller Aargauer Kandidierenden in den Nationalrat gewählt.
Die junge Politikerin fällt durch ihre effiziente und moderne Kommunikation auf. Mit dem Verteilen von 20’000 Duschmittel-Beuteln, die mit dem Slogan «Erfrischendes Aargau» und ihrem Porträt bedruckt waren, sorgte sie schon im Wahlkampf 1999 für Aufsehen.
Doris Leuthard bringt damals tatsächlich frischen Wind in die CVP. Das ist wichtig für die historische Partei, die seit Jahren Wähler verliert und auf der Suche nach neuen Aushängeschildern ist, die auch junge Wähler erreichen und so die Stimmverluste bremsen können. Im Jahr 2001 wird Leuthard zur Vizepräsidentin der Partei gewählt.
Die Krise der Christlichdemokratischen Partei spitzt sich im Jahr 2003 zu. Erstmals seit fast einem Jahrhundert verliert die Partei einen ihrer beiden Bundesratssitze. In zehn Jahren hatten vier Parteipräsidenten versucht, den Abwärtstrend zu stoppen. Ohne Erfolg.
Die Parteidelegierten setzen nun auf die populäre Doris Leuthard. Und der «Doris-Effekt» bleibt nicht aus: Die CVP kann in einigen Kantonen wieder leicht zulegen, genauso wie bei den eidgenössischen Wahlen von 2007, nachdem die Partei über 30 Jahre lang Wählerverluste verzeichnen musste.
Populäre Ministerin
In der Zwischenzeit hat die Aargauer Politikerin bereits den nächsten Karriereschritt gemacht. Als 2006 Joseph Deiss zurücktritt, ist für die Leitungsgremien der Partei klar, dass Doris Leuthard zur Übernahme des freiwerdenden und einzigen CVP-Bundesratssitzes prädestiniert ist. Mit 43 Jahren wird Leuthard denn auch in die Schweizer Exekutive gewählt. Sie ist damit 20 Jahre jünger als das Durchschnittsalter bei der Wahl in den Bundesrat.
Gemeinsam mit dem neuen Parteipräsidenten Christophe Darbellay symbolisiert Doris Leuthard den Willen zur Erneuerung der CVP. Die Christlichdemokratische Volkspartei will sich offener und moderner geben, um auch in den urbanen Zentren punkten zu können, aber gleichzeitig an traditionellen Werten festhalten, um ihre traditionelle Wählerschaft in eher ländlichen Gebieten nicht zu vergraulen. Leuthard verkörpert diese Vision unterschiedlicher Zielgruppen geradezu perfekt.
Die Bundesrätin beherrscht die drei Landessprachen und macht sich durch eine natürliche Empathie beliebt, erhält den Spitznamen «Doris National». Sie wird in allen Regionen des Landes geschätzt und platziert sich regelmässig an erster Stelle bei Umfragen zur Beliebtheit der Regierungsmitglieder.
Diese Popularität spiegelt sich auch in ihrer aussergewöhnlichen Bilanz bei den Volksabstimmungen. 17 Mal vertritt sie die Position des Bundesrats gegenüber dem Volk; nur zwei Mal muss sie eine Niederlage einstecken.
Auch im Parlament wird sie für ihre Kompetenz und ihren jovialen Charakter geschätzt, der zu einer Deeskalation von politischen Konflikten beiträgt. Die aussergewöhnlichsten Traktanden kann sie mit guter Laune und Humor anpacken. Unvergessen bleibt etwa ihre amüsante Antwort auf eine Gymkhana-Anfrage bei Pferden im Parlament.
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Doris Leuthard und die Pferde
Initiantin der Energiewende
Von 2006 bis 2010 war sie Vorsteherin des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements (EVD). In dieser Position verteidigt sie stringent die wirtschaftsliberale Linie der rechtsbürgerlichen Parteien. Es gelingt ihr aber nicht, starke Akzente zu setzen. Bei der Linken und den Gewerkschaften stösst ihre Politik auf Skepsis. Diese forderten nach der Wirtschaftskrise von 2008 entschiedenere Konjunkturprogramme.
2010 wechselt sie an die Spitze des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK). Und im Jahr 2011 – nach der Nuklear-Katastrophe von Fukushima – zeichnet sie für die neue Energiestrategie 2050 verantwortlich.
Es handelt sich um das grösste Reformvorhaben seit Jahren, das den Ausstieg aus der Atomenergie besiegelt, gekoppelt an eine neue Energiepolitik, die auf eine Reduktion des Energiekonsums und der CO2-Emissionen, die Förderung von erneuerbaren Energiequellen und die Erneuerung des Stromnetzes setzt.
Grosse Lücke für die CVP
Leuthard ist aber nicht nur die Mutter der neuen Energiestrategie, sondern hat als UVEK-Vorsteherin auch in vielen anderen Dossiers Akzente gesetzt, etwa bei der Teilnahme der Schweiz an der Klimakonferenz von Paris, beim Abkommen über den Flugverkehr mit Deutschland, den Reformen zur Finanzierung des Strassen- und Bahnverkehrs, der Zustimmung des Stimmvolks zum zweiten Gotthard-Strassentunnel und dem neuen Raumplanungsgesetz. Dazu kam ihre entschiedene Ablehnung der «No-Billag-Initiative», welche das öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen geschwächt hätte.
Und vergessen darf man natürlich nicht die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels, des längsten Eisenbahntunnels der Welt, am 1.Juni 2016, ein Ereignis von internationaler Ausstrahlung, das die technologischen und innovativen Fähigkeiten der Schweiz aufgezeigt hat. An diesem Tag liess die Verkehrsministerin ihren Emotionen freien Lauf, wie in einem Interview mit swissinfo.ch deutlich wird.
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Doris Leuthard ergriffen: «Ein Tag des Stolzes»
In ihrer politischen Karriere musste die abtretende Bundesrätin nur wenige Misserfolge verzeichnen. Dazu gehört die Ablehnung in einer Volksabstimmung über die Preiserhöhung der Autobahnvignette, oder die Annahme der Volksinitiative für eine Beschränkung von Zweitwohnungen.
Auch die kürzlich aufgeflogene Affäre mit manipulierten Buchhaltungen bei der Postauto AG, die zu zahlreichen Rücktritten führte, hinterlässt einen kleinen Schatten auf der strahlenden Leuthard-Bilanz.
Mit ihrem Rücktritt wird die Schweizer Regierung nicht nur ein sehr geschätztes Mitglied verlieren, sondern die CVP auch ihre beliebteste Politikerin. Die Ministerin aus dem Aargau wird eine grosse Lücke in dieser Partei hinterlassen, die im letzten Jahrzehnt weitere Wähleranteile eingebüsst hat und nach wie vor auf der Suche nach einem modernen politischen Profil ist.
Ohne eine neue charismatische Persönlichkeit riskieren die Christlichdemokraten, bei den eidgenössischen Wahlen vom Oktober 2019 keine zehn Prozent der Wählerstimmen mehr zu erreichen.
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Der Schweizer Minister, der nie so richtig im Amt ankam
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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