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Parlament wird grüner, weiblicher und jünger

Die Frauen in der ersten Reihe freuen sich vor allem über den Siegeszug der Grünen Partei. Im Parlament werden Frauen weiterhin eine Minderheit sein. Keystone / Eddy Risch

Was haben die deutlichen Gewinne der Grünen und Grünliberalen sowie die Verluste der SP und vor allem der wählerstärksten SVP zu bedeuten? In der Realpolitik spürbar wird die Wählerverschiebung, wenn die rechtsbürgerliche Mehrheit im Parlament verloren geht. Das ist das Fazit der ersten Reaktionen.

Als «Klimawahl» bezeichnet Politologe Lukas Golder vom Forschungsinstitut gfs.bernExterner Link die Parlamentswahlen 2019.  Nach dem «Rechtsrutsch» von 2015 verschieben sich wesentliche Wähleranteile zu den grünen Parteien. Und diese Verschiebungen seien für Schweizer Verhältnisse so erstaunlich hoch, dass Golder die Grüne Partei (GPS) als «grandiose» und die Grünliberale Partei (GLP) als «grosse Siegerpartei» bezeichnet. Ein Plus von fast 6 Prozentpunkten auf einen Wähleranteil von 13%, wie es den Grünen gelungen sei, komme hierzulande selten vor, sagt der Politologe.

Mit Abstand Wählerstärkste Partei bleibt aber trotz deutlichen Verlusten die Schweizerische Volkspartei (SVP), die im Parlament und in der öffentlichen Debatte das Agenda-Setting behalten will. Weil aber die rechtsbürgerliche Mehrheit infolge der Wählerverschiebungen Geschichte sein dürfte, werden ökologische und progressive Themen mehr Erfolgsaussichten haben. Das sind die Schlüsse, die sich aus ersten Reaktionen ziehen lassen.  

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Die grosse Siegerin: Grüne Partei

Wer sich heute mit einem breiten Lächeln vor die Kameras des Schweizer Fernsehens stellt, gehört zur GPS oder GLP. Balthasar Glättli, Fraktionschef der Grünen, bekannt für bissige Statements an die Adresse seiner Gegner, appelliert freudestrahlend ans Kollektiv: Das Klimaproblem sei die grosse Herausforderung für alle, nicht nur für die Grünen, sagt er. Dass seine Partei von der Klimadebatte profitiert habe, liege daran, dass die Partei seit Jahren glaubwürdig an dem Thema gearbeitet habe. Nun sei dieses endlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Als nunmehr vierstärkste Wählerpartei knapp vor der Christlich-demokratischen Partei (CVP) fordert die GPS mehr. Sie will einen Sitz in der Regierung. Präsidentin Regula Rytz möchte, dass die neuen Mehrheiten im Parlament auch im Bundesrat abgebildet werden. Damit kündigt sie einen Angriff auf einen der beiden Sitze der Freisinnig-demokratischen Partei (FDP.Die Lberalen) in der Regierung an.

Die Präsidentin der Wahlsiegerin verspricht, in der Klimafrage Nägel mit Köpfen zu machen. Die Parteien sollen sich mit Klima-Forschern zu einem Klimagipfel treffen und konkrete Massnahmen zur Begrenzung der Klimaerwärmung beschliessen, fordert Ritz.

Die kleine Siegerin: Grünliberale Partei

Freundlich aber nicht euphorisch gibt sich Jürg Grossen, Präsident der GLP, die in Bern ebenfalls mehr zu sagen haben wird. Der Erfolg sei der Partei aber nicht nur dank den Jugendstreiks in den Schoss gefallen, betont auch er. «Wir hatten schon zugelegt, bevor sich Greta auf den Boden setzte», sagt Grossen.


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Gewinnerinnen: die Frauen

Die beiden Parlamentskammern werden deutlich weiblicher werden, aber für Euphorie gibt es wenig Grund.  Der Anteil der Frauen steigt in der grossen Parlamentskammer von 30 auf 42%. Flavia Kleiner; Co-Präsidentin Operation Libero, spricht von einem guten Tag für die Demokratie. Dass die Frauenfrage im Wahlkampf hinter dem Klima ein wichtiges Thema war, sei ein Zeichen dafür, dass «sich das Bewusstsein geschärft hat. Es reicht nicht, dass Männer uns wohlgesinnt sind. Frauen lassen sich nicht von Männern vertreten. Demokratie ist besser, wenn die Geschlechter gleich vertreten sind», sagt Kleiner mit Blick auf die bisherige Männerdominanz. 

Auch im Ständerat, wo bisher nur 6 von 46 Sitzen von Frauen besetzt waren, könnten sie drei oder vier Sitze dazu gewinnen.

Ebenfalls auf der Gewinnerseite: die Jungen

Die Schweiz hat am Sonntag ein so junges Parlament wie noch nie in den vergangenen Jahrzehnten gewählt. Das Durchschnittsalter der Nationalrätinnen und Nationalräte liegt bei 49 Jahren. Der Jüngste ist 25 Jahre alt – der Älteste 72.

Das neue Durchschnittsalter im Nationalrat beträgt 49 Jahre. Vor vier Jahren lag das Alter aller 200 Mitglieder der grossen Kammer im Schnitt noch bei 50,3 Jahren.

Überraschende Verliererin: Sozialdemokratische Partei

Viele Federn lassen muss die Sozialdemokratische Partei, die vor vier Jahren noch zulegen konnte. Einige bekannte Vertreter der SP müssen ihren Sessel räumen. Der eine oder andere dürfte die Quittung für die Haltung beim Schweizer Lohnschutz erhalten haben. Dass sich die Genossen unflexibel zeigten, ist einer der zentralen Gründe für das bisherige Scheitern des Rahmenabkommens mit der EU.

Nadine Masshardt, Ko-Fraktionschefin der SP, redet die Verluste schön. «Unser Ziel war es, die rechtsbürgerliche Mehrheit zu brechen.» Das werde zu Fortschritten in der Klima- und Frauenpolitik führen, sagt sie.  Dass die SP von der grünen Welle nicht erfasst wurde, obschon auch sie ökologische Vorlagen in der abgelaufenen Legislatur konsequent unterstützte, begründet Masshardt wie folgt. «Die Klimadebatte hilft jenen Parteien, die ‹grün› im Namen haben», sagt Masshardt.

Zur Frage, welche Auswirkungen die Verschiebungen im Parlament für die künftigen Gespräche mit der EU zum Rahmenabkommen haben werden, will sich noch niemand zu stark aus dem Fenster lehnen. Die Vertreter der Wirtschaft sehen die Linke aber in der Verantwortung.

Die grössere Verliererin: Schweizerische Volkspartei

Adrian Amstutz, abtretender Fraktionschef der rechtskonservativen SVP, die deutliche Verluste hinnehmen muss, zeigt den Siegern die Zähne, aber nicht mit einem Lächeln, sondern sichtbar verärgert: «Trotz Hype und Werbetrommel sind wir nach wie vor mit Abstand die wählerstärkste Partei» sagt er kurz rückblickend, um sofort wieder in den Kampfmodus für die nächsten Volksinitiativen seiner Partei umzuschalten.

Parteipräsident Albert Rösti gesteht ein, dass die Partei Fehler gemacht habe. «Wir hätten unsere Massnahmen für eine intakte Umwelt früher und klarer kommunizieren sollen.»

Weiterhin Verliererin: 5. Schweiz

Nicht zu den Siegern gehören die Schweizerinnen und Schweizer im Ausland. Vor vier Jahren schaffte Tim Guldimann als erster Auslandschweizer überhaupt die Wahl in den Nationalrat. Seit seinem Rücktritt vor mehr als einem Jahr ist die 5. Schweiz nicht mehr vertreten. Einer von wenigen Kandidierenden, denen eine kleine Chance eingeräumt wurde, ist Franz Muheim. Dessen Partei, die GLP, hat besonders im Kanton Zürich massiv zugelegt.

Trotzdem bleibt dem Physiker in Schottland die Tür zum Parlament verschlossen. «Obwohl ich keinen kostspieligen Wahlkampf geführt hatte, fehlten mir schliesslich nur 9000 Stimmen. Die Konkurrenten hatten die bessere Ausgangslage. Als Auslandschweizer hat man keine Hausmacht», sagt er gegenüber swissinfo.ch. Solange die Kandidierenden der Auslandschweizer auf die Kantone verteilt würden, hätten sie kaum eine Chance, obwohl das Stimmenpotential der 5. Schweiz jenem des Kantons Thurgau entspreche. «Ohne eigene Vertreter bleiben die Anliegen der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer im Parlament weiterhin auf der Strecke», sagt er. 

Tendenzielle Verliererin: Wahlbeteiligung

Auf absteigendem Ast befindet sich die Wahlbeteiligung. Weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten, nämlich 45,1%, gingen an die Urne. Damit nähert sie sich dem historischen Tiefsstand von 1995 (42,2%).       

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