«Es ächzt im Gebälk des Gottesstaates»
Ein Jahr nach der blutigen Niederschlagung der Massenproteste gegen die Wiederwahl von Präsident Mahmud Ahmedinejad präsentieren die Schweizer Iran-Experten Werner van Gent und Antonia Bertschinger in Bern ihr Buch "Iran ist anders".
«Mit einem Schlag war die Jugend aus ihrer Apathie aufgewacht, hatte ihre Stimme wiedergefunden und begonnen, lauthals und hartnäckig gegen die Islamische Republik zu protestieren.» Die überraschenden Ereignisse des Sommers 2009 in Teheran bilden ein zentrales Kapitel des Buches und interessieren das Publikum an der Präsentation in Bern ganz besonders.
Der Radio- und Fernsehkorrespondent Werner van Gent und die Menschenrechtsexpertin Antonia Bertschinger bleiben allerdings nicht an der Oberfläche der Tagesaktualität, sondern beleuchten die wechselvolle Geschichte Irans und blicken hinter die Kulissen eines Landes, das schwer zu fassen ist.
«Es kommen immer neue Kulissen zum Vorschein, und selten entspricht das, was man findet, dem, was man erwartet hat oder hören wollte. Iran ist fast immer anders als man denkt», heisst es im Buch. 2007 nahmen sie ihr gemeinsames Projekt in Angriff und wurden zwei Jahre später von den politischen Ereignissen überrollt.
Dichtung und Politik
Werner van Gent kennt das Land seit den 1980er-Jahren, als er für die Berner Zeitung von der Front des Iran-Irak-Krieges berichtete. Aber erst, als er vor einigen Jahren angefangen habe, Reisegruppen durch Iran zu führen, habe er die Schönheit dieses riesigen Landes erfasst. Dass er kaum Persisch sprechen könne, tue ihm heute noch leid.
Dagegen hat Antonia Bertschinger Persisch studiert. Sie bekennt, dass ihr das Kapitel über die Dichtung das liebste sei, weil diese viel über die Mentalität der Iranerinnen und Iraner verrate, besonders über deren Liebe zum Pathos und zur Poesie: «In Iran wird sehr gern geweint.»
Das Gedicht, das sie in Bern vorliest, schliesst den Bogen zu den politischen Ereignissen des vergangenen Jahres. Unter dem Pseudonym «Mandana» im Internet publiziert, thematisiert es das Sterben der Studentin Neda im Protestsommer, die zur ersten Märtyrerin der Freiheitsbewegung geworden ist.
«Neda, bleib / Das Zwitschern der Vögel in den Gassen / Das grüne Kleid der Wälder und der Duft der Blüten / Sagen: Der Frühling ist da / Geh nicht, Neda». Der Name der von einem Polizisten erschossenen Studentin bedeute auch Stimme oder Ruf, erklärt Bertschinger: «Das Gedicht ist damit auch ein Aufruf ans iranische Volk, seine Stimme zu erheben.» Dann blickt die Autorin ins Publikum und fügt an: «In Iran hätte jetzt mindestens die Hälfte der Leute beim Zuhören geweint.»
Der Wendepunkt
In den letzten Monaten ist es still geworden um die Freiheitsbewegung, die das Machtgefüge im Gottesstaat aus dem Gleichgewicht brachte. Wird sie das repressive Regime stürzen können? «Momentan sieht es nicht danach aus», sagt Werner van Gent gegenüber swissinfo.ch. «Die Bewegung ist zwar nicht eingeschlafen, aber sie ist mit brutaler Gewalt unterdrückt worden. Zahlreiche Menschen wurden verhaftet, andere sind ausgewandert, und viele haben sich in die Isolation der Privatsphäre zurückgezogen.»
Der Wendepunkt sei im Dezember 2009 eingetreten, als während der schiitischen Aschura-Prozessionen im Trauermonat Moharram bei Zusammenstössen auch Polizisten, Sicherheitskräfte und freiwillige Milizen getötet wurden, meint van Gent. «Für einen Moment sah es nach Bürgerkrieg aus. Die Freiheitsbewegung war keineswegs gewaltfrei. Als das Regime realisierte, wie gefährlich sie war, schlug es mit voller Gewalt zu.»
Für den Iran-Experten ist der Umstand, dass die Bewegung nicht organisiert ist, ambivalent: «Dadurch ist sie fürs Regime einerseits nicht fassbar, andererseits hat sie aber auch keine Kraft und keine Plattform, von der aus sie agieren könnte.»
Entscheidend sei die Frage, was geschehe, wenn der seit Jahren schwer kranke Ali Khamenei sterbe, meint van Gent: «Er ist es, der Ahmedinejad in diese Position der Stärke gebracht hat. In der heiligen Stadt Qom könnte es dann zu einem Nachfolgestreit kommen, denn dort gärt es seit langem. Es ächzt im Gebälk des Gottesstaates.»
Werner van Gent, der zuerst als Journalist und später als Reiseleiter nie ein Problem hatte, ein Visum für Iran zu bekommen, reist vorläufig nicht mehr in den Gottesstaat: «Aus Sicherheitsgründen, und weil ich zu stark eingeschränkt würde. Ich finde es zur Zeit nicht angemessen, mit einer Touristengruppe nach Iran zu reisen.»
Susanne Schanda, swissinfo.ch
Werner van Gent, 1953 in Utrecht (NL) geboren, ist seit 30 Jahren Südosteuropa-Korrespondent für schweizerische und deutsche Medien.
Er lebt in Athen und Istanbul.
Seit 1983 hat er Iran wiederholt als Journalist bereist. Ausserdem leitet er Studienreisen in Länder des Nahen Ostens und nach Griechenland.
Sein letztes Buch: «Zimt in der Suppe. Überraschendes Griechenland.»
Antonia Bertschinger, 1973 in Zürich geboren, hat Philosophie und Persisch studiert und Iran wiederholt bereist.
Von 2005 bis 2007 arbeitete sie auf der Schweizer Botschaft in Teheran als Beraterin für Menschenrechtsfragen.
Das Buch «Iran ist anders. Hinter den Kulissen des Gottesstaates» mit Fotos von Tori Egherman und Kamran Ashtary ist 2010 im Rotpunktverlag Zürich erschienen.
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