«Etwas Hoffnung für Somalia ist zum ersten Mal erlaubt»
Der Schweizer Philippe Lazzarini, der neue Stellvertretende Sonderbeauftragte der UNO in Somalia, hat grosse Hoffnungen für die Zukunft des zugrunde gerichteten Landes. Dank der Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft beginnt sich die Lage zu normalisieren.
«New Deal» für Somalia. Das hat die internationale Gemeinschaft anlässlich zweier Konferenzen der Hoffnung in London und Brüssel im letzten Herbst vorgeschlagen. Die Versöhnung, der Wiederaufbau und der Neubeginn sollen sich innerhalb von drei Jahren vollziehen und bis 2016 auf allgemeine Wahlen hinauslaufen. Die Europäische Union glaubt sehr stark an die Rückkehr zur Normalität, die sie mit einem Engagement von fast 2 Mrd. Euro für drei Jahre unterstützt.
Philippe Lazzarini, der kürzlich zum Stellvertretenden Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der UNO für ein Land ernannt worden ist, das er schon sehr gut kennt, hat gute Gründe, auf die Zukunft zu setzen.
swissinfo.ch: Der «New Deal», der in Brüssel abgeschlossen wurde, zielt auf einen Wiederaufbau und eine Stabilisierung des Landes ab. Was könnte das konkret für Somalia bedeuten?
Philippe Lazzarini: Das Armutsniveau in dem Land ist eine Schande. Eine Stabilisierung bedeutet deshalb, der Bevölkerung zu zeigen, dass funktionierende Institutionen einen Unterschied ausmachen im Alltag jedes Einzelnen.
Der Präsident hat uns gesagt, «wenn Sie uns helfen das Bildungswesen, das Gesundheitssystem, die Wasserversorgung, die lokalen Verwaltungen und die Polizei aufzubauen, würde dies bereits einen grossen Unterschied im Alltag der Somalier ausmachen». Ohne diese Entwicklung gibt es keinen dauerhaften Frieden.
swissinfo.ch : Aber die Sicherheit der Bevölkerung muss auch gewährleistet werden…
P.L.: Ja, natürlich. Unsere Aktion beinhaltet auch einen Aspekt zur Sicherheit und Regierungsführung mittels Stabilisierungsprogrammen, nicht nur in Mogadischu, sondern auch im Rest des Landes. Auch die Ausbildung der Polizei und der lokalen Verwaltungen gehören zum Aufgabenbereich.
500’000 Tote: Dies ist die Schreckensbilanz aus 22 Jahren Bürgerkrieg in Somalia nach dem Sturz von Diktator Siad Barre 1991.
Nachdem islamistische Gerichte lange die Scharia durchgesetzt hatten, vertrieben 2007 Soldaten aus den Nachbarstaaten die Fundamentalisten.
Heute kontrollieren al-Shabaab-Milizen noch immer grosse Landstriche; drei Regionen haben sich für autonom erklärt, während die Zentralregierung ausserhalb der Hauptstadt kaum Einfluss hat.
Die Wirtschaft liegt in Trümmern, zwei Mio. Menschen leiden Hunger, zwei Millionen wurden vertrieben oder mussten ins Ausland flüchten. Vor zwei Jahren forderte eine Hungersnot 500’000 Opfer.
2001 lag Somalia in der UNO-Rangliste des humanen Entwicklungsindex› auf dem letzten Platz. Mittlerweile ist es gar nicht mehr klassiert.
Seit 2013 ist das Horn von Afrika neue Schwerpunktregion der Entwicklungspolitik der Schweiz. Laut Philippe Lazzarini hat die Schweiz der Krisenregion viel zu bieten, insbesondere in Schlüsseldossiers wie Föderalismus oder Verteilung der Ressourcen.
2013 unterstützte die Schweiz die Region mit 27 Mio. Franken, zwei Drittel davon flossen in die humanitäre Hilfe.
swissinfo.ch: Wie steht es heute um die die humanitäre Lage nach der Hungersnot infolge der Dürre von 2011?
P.L.: Ende 2013 gab es zum ersten Mal weniger als 1 Million Menschen (von einer Gesamtbevölkerung von 10 Millionen), die auf dringende Ernährungshilfe angewiesen waren. Seit der Hungersnot hat sich die Lage spürbar verbessert.
Mit anderen Worten: Die Bedürfnisse sind nach wie vor immens. Insgesamt gibt es immer noch 2 bis 2,3 Millionen Menschen – darunter auch jene Million, die regelmässig Ernährungshilfe benötigen –, die mit einer prekären Ernährungssituation zu kämpfen haben. Ausserdem gibt es im Land eine Million intern Vertriebene sowie eine Million Flüchtlinge in den angrenzenden Ländern.
Dazu kam im letzten Jahr eine Polio-Epidemie, eine Krankheit, die in Somalia seit 2007 ausgerottet worden war. Dank einer umfangreichen Impfaktion ist es gelungen, die Epidemie zu kontrollieren. Nicht zu vergessen sind alle anderen Gesundheitsprobleme sowie die sexuelle Gewalt – und dies alles in einem Land, wo der Zugang zur Bevölkerung ausserhalb der Städte sehr schwierig ist.
In den somalischen Notaufnahmelagern herrschen für Frauen und Mädchen erhöhte Risiken von sexueller Gewalt bis hin zu Vergewaltigung.
Vertreter von Amnesty International haben vor Ort mit zahlreichen der verletzlichsten Bewohnerinnen gesprochen. Das jüngste Vergewaltigungs-Opfer war 13 Jahre alt. Nach der Flucht aus ihrer Heimat infolge bewaffneten Auseinandersetzungen und Trockenheit leben die Frauen auch in den Lagern in ständiger Angst.
Untersuchungen und Ermittlungen wegen sexueller Gewalt sind in Somalia selten. Die Opfer sehen keinen Vorteil in einer Anzeige bei den Behörden. Frauen, die sich gegen das Verbrechen wehren wollten, waren noch stärkerer Gewalt ausgesetzt.
Die Polizei behandelt weibliche Opfer oft vorwurfsvoll und konfrontiert sie mit deplatzierten Fragen. Obwohl die Zahl der Sexualdelikte hoch ist, gibt es nur wenige Beamte, die entsprechende Ermittlungen führen können.
Laut UNO gab es 2012 in den somalischen Lagern für Vertriebene mindestens 1700 Vergewaltigungen; 70% davon wurden Männern in Uniformen der Regierungstruppen zugeschrieben. Fast ein Drittel der Opfer war minderjährig.
(Quelle: Amnesty International, Bericht vom 30. August 2013)
swissinfo.ch: Zur Mission der Internationalen Gemeinschaft gehört auch die Unterstützung des Friedens. Wie steht es derzeit mit den bewaffneten Gruppen und insbesondere mit der al-Shabaab-Miliz?
P.L.: Der Sicherheitsrat hat entschieden, die Hilfsmittel für die somalische Armee zu erhöhen, um dieser neue Offensiven gegen bewaffnete Gruppen zu ermöglichen. Wir stehen in einem Versöhnungsprozess, aber die Mission der afrikanischen Union in Somalia hat den Auftrag, den Kampf gegen alle Gruppierungen fortzuführen, die nicht an der Versöhnung teilnehmen wollen, darunter al-Shabaab.
swissinfo.ch: D.h., al-Shabaab beteiligt sich nicht am «New Deal». Gibt es noch andere Gruppierungen?
P.L.: Das ist eine politische Frage. Die Regierung hat allen Gruppierungen die Hand entgegen gestreckt und tut es noch immer, die bereit sind, auf die Wiederaufnahme von Gewalt zu verzichten.
swissinfo.ch: Leiden Sie darunter, dass die Spendebereitschaft, das Interesse der Medien und der Internationalen Gemeinschaft seit der Zeit, in der sich Somalia im Kriegszustand befindet, nachgelassen hat?
P.L.: Die Krise hält zwar an, aber es ist mit Bestimmtheit das erste Mal in den letzten 20 Jahren des Chaos, dass Hoffnung berechtigt ist. Das zeigt sich auch an der Reaktion der somalischen Diaspora, die ins Land zurückgekehrt ist, um sich am Wiederaufbau zu beteiligen.
Mogadischu lässt sich heute nicht mehr mit dem vergleichen, was die Stadt vor einem Jahr war. Überall in der Stadt wird gehämmert, es gibt zahlreiche Gebäudesanierungen, kleine Geschäfte, die aufgestellt wurden. Es herrscht ein grosser Wirbel, und eine eher positive Energie wird spürbar.
Für die Internationale Gemeinschaft hatte ich auch eine Ermattung befürchtet, aber es gibt dieses Verlangen und Engagement, Somalia zu helfen, eine «positive story» zu werden. Man will daran glauben. Die Konferenzen in London und Brüssel haben gezeigt, dass trotz aller geopolitischen Agenden, die in Konkurrenz zueinander stehen, Somalia in der Prioritätenliste weit oben geblieben ist.
Bei der Finanzierung humanitärer Aktionen ist in diesem Jahr allerdings eine Ermüdung festzustellen – auch im Vergleich mit anderen Brennpunkten.
swissinfo.ch: Was erwarten Sie für die kommenden Jahre und vom «New Deal»?
P.L.: Dieses Jahr ist absolut entscheidend. Ende 2014 werden wir bereits einen Drittel des politischen Prozesses des «New Deals», der in drei Jahren zu Wahlen führen sollte, zurückgelegt haben. Die neue Regierung wird unter Beweis stellen müssen, dass sie in der Lage ist, die Sicherheit in den Städten zu gewährleisten. Ohne diese Sicherheit werden die neuen Institutionen und Entwicklungspartner den Somaliern nicht zeigen können, dass es besser ist, eine Nation mit funktionierenden Institutionen zu haben, als im Chaos weiterzufahren.
Man muss die Kapazität zur Versöhnung Mogadischus und seiner Regionen aufzeigen, den Kindern zu einer Ausbildung verhelfen, der Bevölkerung den Zugang zum Gesundheitssystem, zur Wasserversorgung sicherstellen und, vor allem, den Leuten den Anschein einer Regierungsführung und Sicherheit vermitteln, die es ihnen erlaubt, ökonomische Aktivitäten zu wagen.
Philippe Lazzarini (49) schloss an der Uni Neuenburg als Ökonom ab und machte danach in Lausanne ein MBA (Master of business administration).
Als Delegierter des IKRK war er in Südsudan, Beirut, Amman und Gaza im Einsatz. Dazu leitete er Missionen der humanitären Organisation in Bosnien, Angola und Ruanda.
Danach wechselte Lazzarini ins Büro zur Koordination der UNO-Nothilfe (OCHA), wo er Vizedirektor der Abteilung Koordination und Intervention wurde. Viel Zeit verbrachte er im Feld, so in Irak, Angola, Somalia und den palästinensischen Autonomiegebieten.
Seit März 2013 ist er Koordinator und Repräsentant des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (PNUD) in Mogadischu. Ende Jahr wurde er von UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon zum Stellvertreter des UNO-Sondergesandten Nicholas Kay ernannt. In dieser Funktion leitet Lazzarini auch die Koordination der humanitären Hilfe in Somalia.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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