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Die Zeit des Haderns ist vorbei

François Cherix

Bern steht vor einer wichtigen Weichenstellung mit Brüssel. Für den Schriftsteller François Cherix ist nun Zeit zu Handeln. Das Plädoyer eines überzeugten Europäers.

Lange Zeit hat die Schweiz die Europäische Union mit verhedderten Strategien ignoriert und zugleich von ihr profitiert. Sie hat den EU-Markt für sich genutzt, ist aber dem «Klub» nie beigetreten. Heute, in einer sich rasch wandelnden Welt, ist es für die Schweizerische Eidgenossenschaft schwieriger denn je, diesen kulturellen und politischen Balanceakt zu meistern.

Der Waadtländer François Cherix ist Schriftsteller, Kommunikationsberater und überzeugter Europäer. Bis 2020 war er Co-Präsident der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs).

In seinem jüngsten Buch, «Le crépuscule du récit révolutionnaire – Regard sur les tourments du débat politique français de la crise des gilets jaunes à celle du coronavirus»Externer Link, analysiert er aktuelle Probleme der Polit- und Medienlandschaft in Frankreich.

Die Vereinbarung, die es der Schweiz erlauben soll, mit einem Fuss im europäischen Staatensystem und mit dem anderen ausserhalb zu stehen, wird wahrscheinlich scheitern. Der Bundesrat wirkt gespalten und desorientiert. Es ist fraglich, ob er die Kraft aufbringen kann, das Rahmenabkommen unter Dach und Fach zu bringen.

Zweck des Vertrags ist es, einen bilateralen Weg zu beschreiten, der speziell für die Schweiz als Ausgleich für ihr Nein zum EWR eingerichtet wurde. Doch die sonst als pragmatisch geltende Alpennation gibt sich zu idealistisch und sägt langsam am Ast, auf den sie sich einst freiwillig gesetzt hat.

«Für die Schweiz ist die Zeit gekommen, sich zu entscheiden.»

Gleichzeitig verändert sich das Umfeld. In der EU zum Positiven. Überstanden sind viele Gefahren und Hemmnisse, zum Beispiel die Finanzkrise von 2008. Den Euro gibt es noch.

Die Eurobarometer-Umfragen zeigen eine hohe Zustimmung zur eigenen Währung, auch bei den nationalistisch geprägten Nationen. Auch den Brexit hat das Staatenkonstrukt überlebt, ja, ist gestärkt und geeint daraus hervorgegangen, hat aber als Folge auch den Status von Drittstaaten abgewertet.

Auf globaler Ebene ist es schwieriger geworden. Der Multilateralismus ist auf dem Rückzug, zugleich sind autoritäre Regime auf dem Vormarsch. Und die Welt steckt noch immer in einer Pandemie fest, welche die Zusammenarbeit auf eine harte Probe stellt und zu Spannungen führt.

Die EU und Europa als Ganzes haben an Macht und Gewicht eingebüsst, während sich die Entscheidungszentren nach Asien verlagern. Für die Schweiz ist die Zeit gekommen, sich zu entscheiden. Sollte sie nicht endlich mit ihrem isolationistischen Kurs brechen, sich den Entwicklungen in der Welt stellen und den Weg der europäischen Integration wagen?

Die Schweiz ist auf spektakuläre Art verwirrt und lethargisch. Sie will sich ewig weigern, ihr europäisches Schicksal zu wählen. In der Tat ist diese Unbeweglichkeit das Ergebnis einer Reihe von Geschichten, die ihren Weg ins kollektive Schweizer Bewusstsein gefunden haben. Aber sie sind nicht mehr als das: Geschichten, fiktive Narrative, Illusionen.

«Weil sie intensive Beziehungen zum Rest von Europa aufgebaut hat, konnte die Schweiz ihre geostrategische Position optimal ausnutzen.»

Das erste Narrativ handelt vom Glauben, dass die Schweiz wählen kann, ob sie Beziehungen zur EU hat oder nicht. In Wirklichkeit ist sie ein Teil des europäischen Wirtschafts- und Sozialgefüges. 14 von 26 Kantonen, die 70 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, grenzen an die EU.

Die Schweiz kann sich nicht vom Rest Europas abkapseln: Sie liegt in deren Mitte. Das macht es unausweichlich, enge Beziehungen zu ihren Nachbarn zu pflegen.

Die zweite Geschichte besagt, dass die Schweiz sich bewusst gegen die EU entschieden hat. In Wahrheit hat sie, ohne es zu bemerken, durch allerlei Verträge und der Übernahme europäischen Rechts eine Art kalten Beitritt vollzogen. Damit ist sie zwar stark ins europäische System integriert, hat aber kein Wahlrecht und somit den schlechtesten Status überhaupt; nämlich den eines passiven Mitglieds.

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Die dritte Geschichte ist quasi die Fortsetzung der beiden vorherigen: Die Schweiz glaubt, ihre Erfolge der Tatsache zu verdanken, dass sie sich gegen die EU entschieden hat.

Das genaue Gegenteil ist der Fall: Gerade weil sie intensive Beziehungen zum Rest von Europa aufgebaut hat, konnte sie ihre geostrategische Position optimal ausnutzen. Es sind die Bilateralen I und II, die den schon fast unverschämten Erfolg der Schweiz ermöglicht haben.

Dieses trügerische Narrativ, das viele Meinungen formt, unterstreicht einen wichtigen Punkt: Die oft in Sackgassen endenden Debatten zum Rahmenabkommen sind weniger auf technisch-juristische Fragen als auf einen kulturellen Bruch zurückzuführen.

Natürlich ist das Abkommen nicht perfekt. Wie jeder supranationale Vertrag hat er Vor- und Nachteile für beide Parteien. Es sind jedoch nicht unüberbrückbare Differenzen, die es zum Scheitern bringen können, sondern es ist der fehlende politische Wille, den Vertrag zu einem Erfolg zu machen.

«Verloren in einer Mischung aus Ängsten und falschen Gewissheiten, ist die Schweiz nicht in der Lage, die ihr vorgelegte Gleichung zu lösen.»

Die Schweiz hat sich von Europa entfernt. Und ohne es zu merken, entfernt sie sich von sich selbst. Sie überspielt ihre Besonderheiten und erfindet Unterschiede, während ihre Geschichte, Sprachen, Kulturen und Wirtschaft zutiefst europäisch sind.

Indem sie die Risiken der Unbeweglichkeit minimiert, erlaubt sie sich den Luxus der Unentschlossenheit, und das in Angesicht einer herausfordernden und zunehmend gefährlichen Welt, die kooperatives Handeln erfordert.

Das Rahmenabkommen offenbart eine Gesellschaft, die grösste Mühe hat, Raum und Zeit angemessen wahrzunehmen. Von seinem Alpenbalkon aus schaut die Schweiz auf die Welt, ohne sie zu verstehen und hofft, ihren Krisen und Herausforderungen zu entschwinden. Verloren in einer Mischung aus Ängsten und falschen Gewissheiten, ist sie nicht in der Lage, die ihr vorgelegte Gleichung zu lösen.

Dabei sind die Parameter simpel: Tritt das Rahmenabkommen in Kraft, hat der bilaterale Weg eine Zukunft. Andernfalls sind die bestehenden Verträge nicht mehr aktuell, und die Beziehung zur EU wird sich verschlechtern. Mit anderen Worten: Wenn es scheitert, besteht die Alternative darin, eine schmerzhafte Marginalisierung zu erleiden oder eine andere Form der Annäherung zu wählen.

Es gibt dann nur noch zwei Optionen: Entweder die Wiederbelebung des 1992 abgelehnten EWR oder den Schritt zur Mitgliedschaft. Letzteres ist die einzige Lösung, welche die Schweiz letztendlich zu einem vollwertigen EU-Mitglied mit Sitz in den Entscheidungsgremien machen würde.

Heute befindet sich die Schweiz im Wesentlichen in einer inneren Krise. Und es ist eine Krise des Denkens. Ihre Weigerung, aktuelle Entwicklungen zu akzeptieren, nimmt ihr die Bezugspunkte, welche für gute Entscheidungen notwendig sind.

Sie hat den Kontakt zu ihrem Kontinent verloren. Sie ist kurzsichtig, ja dreht sich im Kreis. Um wieder in Schwung zu kommen und die Herausforderungen des Jahrhunderts zu meistern, hat sie keine andere Wahl, als ihre Geschichte und ihr Umfeld neu zu entdecken.

(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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