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Cenni Najy: «Die EU wird das Rahmenabkommen mit der Schweiz nicht neu verhandeln»

Ueli Maurer und Christian Levrat
Bundespräsident Ueli Maurer und Präsident der Sozialdemokratischen Partei Christian Levrat sind sich oft nicht einig, aber beide haben sich für die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der Europäischen Union ausgesprochen. KEYSTONE / URS FLUEELER

Während sich im Inland ein Scheitern des Rahmenabkommens abzeichnet, warnt Cenni Najy, Forscher und Experte für europäische Fragen an der Universität Genf: Brüssel wird sich unflexibel zeigen und nicht auf das mit der Schweizer Regierung ausgehandelte Rahmenabkommen zurückkommen.

Ist das institutionelle Rahmenabkommen, das die langfristigen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union regeln soll, bereits gescheitert? Das scheinen jedenfalls Äusserungen zahlreicher Schweizer Politiker und Politikerinnen Anfang dieses Jahres nahezulegen.

Cenni Najy ist Forscher und Experte für Europafragen an der Universität Genf sowie im Schweizer Think Tank für Aussenpolitik foraus. unige

Das Jahr begann mit einer brisanten Erklärung seitens des neuen Bundespräsidenten, Ueli Maurer: «Wir müssen wichtige Punkte nachverhandeln, damit das Rahmenabkommen eine Chance hat, akzeptiert zu werden. Das ist meine Beurteilung», sagte der Minister der rechtskonservativen und anti-europäischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) gegenüber dem Zürcher Lokalfernsehen TelezüriExterner Link.

Diese Äusserung wurde breit kommentiert, zumal die Regierung selbst noch keine Position bezogen hat und derzeit eine breite Vernehmlassung durchführt über den «Deal», der in Brüssel im Dezember ausgehandelt wurde.

Unterdessen forderte der Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP), Christian Levrat, eine Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der Europäischen Union. «Die institutionelle Vereinbarung, die sich derzeit in der Vernehmlassung befindet, ist hinfällig. Sie hat keine Chance, ohne die Unterstützung der SP eine Mehrheit zu gewinnen oder eine Volksabstimmung zu überstehen», sagt er.

In den Augen von Cenni Najy, Europa-Spezialist an der Universität GenfExterner Link und beim Think Tank forausExterner Link, fehlt es heute in der Schweiz am politischen Willen, ein Rahmenabkommen abzuschliessen.

swissinfo.ch: Indem er Neuverhandlungen mit der EU über das Rahmenabkommen forderte, liess der neue Bundespräsident, Ueli Maurer, eine politische Bombe platzen. Warum solche Kommentare, wenn die Vernehmlassung gerade erst begonnen hat?

Cenni Najy: Es ist wahrscheinlich, dass Ueli Maurer den SVP-Wählern zu Beginn dieses Wahljahres Zusagen machen wollte. Aber es ist klar, dass diese Aussagen im totalen Widerspruch zu der vom Bundesrat im Dezember beschlossenen grossen Vernehmlassung stehen. Diese Erklärung steht nicht nur im Widerspruch zum Kollegialitätsprinzip der Schweizer Regierung, sondern untergräbt auch die Glaubwürdigkeit der Schweiz gegenüber der Europäischen Union.

Mit der Verschiebung der Unterzeichnung des Abkommens zum Zweck der Anhörung der betroffenen Gruppen war es der Schweiz gelungen, die EU von ihrem guten Willen zu überzeugen und im Gegenzug eine Verlängerung der Anerkennung der Börsenäquivalenz um sechs Monate zu erhalten. Nach den Äusserungen von Ueli Maurer wird Brüssel zum Schluss kommen, dass dies nur eine Verzögerungstaktik war, um Zeit zu gewinnen.  

«Ueli Maurers Erklärung untergräbt die Glaubwürdigkeit der Schweiz gegenüber der Europäischen Union.»

swissinfo.ch: Aber hat Ueli Maurer nicht Recht, auf einem besseren Abkommen zu bestehen, angesichts der allgemeinen Ablehnung in der Schweiz?

C.N.: Wir müssen uns den Tatsachen stellen: Die im Dezember vorgelegte Vereinbarung wird von Brüssel nicht neu verhandelt. Das haben vor allem Donald Tusk [Präsident des Europäischen Rates] und Jean-Claude Juncker [Präsident der Europäischen Kommission] in einem Schreiben an Ueli Maurer vom 20. Dezember betont, in dem von einem «definitiven Vorschlag» die Rede war.

Es gibt keinen Grund, warum sich Brüssel gegenüber der Schweiz entgegenkommender zeigen sollte als dem Vereinigten Königreich, das keine Gelegenheit erhalten hat, sein EU-Austrittsabkommen neu zu verhandeln. Darüber hinaus gibt es meines Wissens keinen historischen Präzedenzfall für ein solches Abkommen, das nach dem Abschluss auf Antrag des Drittlandes neu verhandelt worden wäre. 

swissinfo.ch: Ist das heute auf dem Tisch liegende Abkommen wirklich so schädlich für die Schweiz, wie viele Schweizer Politiker und Politikerinnen behaupten?

C.N.: Das Abkommen wird nur durch eine Schweizer Brille beurteilt. Auch die Europäische Union hat eine Reihe von Zugeständnissen gemacht, aber man hat Mühe in der Schweiz, das zu sehen. So hätte die EU beispielsweise von Anfang an gerne alle flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit aufgehoben, da diese nicht eurokompatibel sind. In der Endfassung sprechen wir von einer Reform und nicht von einer Aufhebung.

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swissinfo.ch: Könnte sich die EU nicht ein wenig zurücknehmen bei einigen Punkten, die für die Schweiz sehr wichtig sind?

C.N.: Es obliegt den politischen Parteien und Interessengruppen zu entscheiden, ob diese Zugeständnisse ausreichend sind. Aber abgesehen von den Diskussionen über technische Details – insbesondere die Verkürzung der Ankündigungsfrist für entsandte ArbeitnehmerExterner Link von 8 auf 4 Tage – kann ich in der Schweiz keinen wirklichen politischen Willen zur Unterzeichnung eines Abkommens feststellen.

«Ich kann  in der Schweiz keinen wirklichen politischen Willen zur Unterzeichnung eines Abkommens feststellen.»

Die Reform der flankierenden Massnahmen beispielsweise könnte teilweise mit einer Ausweitung der Gesamtarbeitsverträge (GAV) kompensiert werden. Die beiden Mitte-rechts-Parteien, die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) und die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP), scheinen es jedoch nicht eilig zu haben, einen Kompromiss vorzulegen, der für die Linke und die Gewerkschaften akzeptabel ist.

swissinfo.ch:Die Ablehnung des Rahmenabkommens durch die rechtskonservative SVP war vorhersehbar. Hingegen mag die unflexible Position der Linken und der Gewerkschaften, die den bilateralen Weg mit der EU immer unterstützt haben, mehr überraschen. Wie erklären Sie diese?

C.N.: In den letzten zehn Jahren hat die SP immer wieder das Lohndumping kritisiert, das durch die Personenfreizügigkeit verursacht wird, sowie die fehlende Wirksamkeit von flankierenden Massnahmen. Statt wie gefordert die Massnahmen zu verstärken, hat Aussenminister Ignazio Cassis von der FDP bei einer Erklärung letzten Sommer eine Schwächung dieser Massnahmen vorgeschlagen, was alle überrascht hat.    

Mitten im Wahljahr ist es unwahrscheinlich, dass die SP, die den Schutz der Schweizer Löhne zu einem ihrer Hauptanliegen gemacht hat, ihre Position ändern wird. Dies umso mehr, als die SP, inspiriert vom Erfolg anderer linker Gruppierungen in Europa, in ihrem Programm eine Linkskurve machen will.

swissinfo.ch: Was passiert, wenn die Schweiz das Rahmenabkommen ablehnt?

C.N.: Der Entscheid wird voraussichtlich zwischen Mai und Juli gefällt, also mitten im Wahlkampf für die Parlamentswahlen im Oktober. Die erste Vergeltungsmassnahme der EU wird höchstwahrscheinlich die Nichterneuerung der Anerkennung der Börsenäquivalenz sein. Die Europäische Kommission könnte sodann beschliessen, die Beteiligung der Schweiz am EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation (Horizon 2020)Externer Link einzustellen.

Eine weitere mögliche Folge: Die EU könnte sich weigern, das Übereinkommen über technische HandelshemmnisseExterner Link zu erneuern, eines der wichtigsten Verträge der Bilateralen I. Diese Sanktionen wären zwar nicht katastrophal für die Schweizer Wirtschaft, aber sie hätten erhebliche negative Auswirkungen auf die betroffenen Sektoren.

«Der Regierung fehlte eine langfristige Vision und Strategie in der Europapolitik.»

Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass alles wieder von vorne beginnt. Aber das wird kompliziert. Die Europäische Kommission und das Europaparlament werden dieses Jahr vollständig erneuert, und es gibt keine Garantie dafür, dass die neuen europäischen Staats- und Regierungschefs Lust haben werden, die Arbeit ihrer Vorgänger wieder aufzunehmen.

swissinfo.ch: Fehlt es der Schweizer Regierung Ihrer Meinung nach in dieser Angelegenheit an Mut?

Auf jeden Fall fehlte ihm eine langfristige Vision und Strategie. Niemand weiss wirklich, was die Absichten des Bundesrats in der Europapolitik sind. Wenn die Regierung das Rahmenabkommen nicht will, dann sollte sie das klar sagen. Diese Position ist völlig legitim und vertretbar, aber man müsste dann die Konsequenzen tragen und so gut wie möglich vorbereitet sein.

Schweiz –  EU: ein halbes Jahrhundert Eiertanz

Geographisch im Herzen Europas gelegen, ist die Schweiz eng mit den Ländern der Europäischen Union verbunden, weigert sich aber hartnäckig, dem Bündnis beizutreten.

Seit dem Freihandelsabkommen von 1972 und nach der Weigerung des Stimmvolks im Jahr 1992, dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beizutreten, hat die Schweiz den bilateralen WegExterner Link eingeschlagen und mehr als 20 weitreichende sektorale und 100 kleinere Abkommen mit Brüssel unterzeichnet.

Heute hängt die Entwicklung dieses bilateralen Weges von einem institutionellen Rahmenabkommen ab. Dieses neue Rahmenabkommen, das im Dezember vorgestellt wurde, soll die Auslegung und Umsetzung wichtiger bilateraler Abkommen und die künftigen Beziehungen zwischen Bern und Brüssel regeln.

Während die EU nach fünf Jahren intensiver Verhandlungen auf die Unterzeichnung dieses Abkommens drängt, hat die Schweizer Regierung eine abwartende Haltung eingenommen, indem sie das mit Brüssel abgeschlossene Abkommen einer umfassenden informellen Vernehmlassung unterzieht.

(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)

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