«Europäer in der Schweiz hätten nichts zu befürchten»
Falls das Schweizer Stimmvolk am 27. September das Ende der Personenfreizügigkeit mit Brüssel beschliesst, können Bürgerinnen und Bürger der EU weiterhin in der Schweiz leben und arbeiten. Aber ihre Situation könnte komplizierter werden, warnt Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Recht an der Universität Freiburg.
Rund 1,4 Millionen Europäerinnen und Europäer leben in der Schweiz, umgekehrt sind rund 470’000 Schweizer Bürgerinnen und Bürger in einem Land der Europäischen Union (EU). Sie profitieren vom Abkommen über die Freizügigkeit von Personen, das ihnen freien Zugang zu den jeweiligen Arbeitsmärkten gewährt.
Am 27. September sind die Schweizer Stimmberechtigten aufgerufen, über die Volksinitiative «für eine moderate Zuwanderung» der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) abzustimmen. Ziel der Vorlage: die Kündigung des freien Personenverkehrs. Gegner sprechen deshalb auch von der Kündigungs-Initiative.
Alle Umfragen deuten zwar auf ein recht klares Nein hin. Ein allfälliges Ja aber würde die gegenseitige Mobilität in Europa zwar nicht abstellen, aber komplexer machen, sagt Rechtsexpertin Sarah Progin-Theuerkauf.
swissinfo.ch: Was passiert, wenn das Personenfreizügigkeits-Abkommen mit der EU gekündigt wird?
Sarah Progin-Theuerkauf: Da die sieben Bilateralen Abkommen I durch eine Guillotine-Klausel verbunden sind, würde die Kündigung automatisch zum Aus der anderen sechs Abkommen seitens Brüssels führen. Auf das zweite Paket der bilateralen Abkommen hätte es keine direkten Auswirkungen.
Die politischen Auswirkungen würden jedoch erheblich sein. Die EU hätte wenig Interesse an Abkommen mit der Schweiz, die im Kontext des gegenseitigen Austauschs und der Offenheit stehen. Auch andere Abkommen wären gefährdet. Es gibt keine Garantie, dass der bilaterale Weg nachhaltig sein würde.
Am 6. Dezember 1992 lehnte das Schweizer Stimmvolk den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit 50,3% Nein ab.
Die Regierung fror daraufhin den davor eingereichten Antrag auf EU-Mitgliedschaft ein und entschied sich für die Aushandlung sektorieller Abkommen mit Brüssel.
Am 21. Juni 1999 unterzeichneten die Schweiz und die EU das erste Paket bilateraler Abkommen, darunter das Abkommen über die Freizügigkeit von Personen. Es bietet Schweizer und europäischen Bürgerinnen und Bürgern freien Zugang zu ihren jeweiligen Arbeitsmärkten.
Das zweite Paket bilateraler Abkommen zwischen der Schweiz und der EU wurde am 26. Oktober 2004 unterzeichnet.
Im Gegensatz zu den Bilateralen I sind diese neun Abkommen rechtlich nicht aneinandergekoppelt. Sie gehen auch über den wirtschaftlichen Rahmen hinaus und decken Bereiche wie Sicherheit, Asyl, Umwelt und Kultur ab.
Haben die fast eineinhalb Millionen Europäerinnen und Europäer in der Schweiz, die von der Freizügigkeit profitieren, etwas zu befürchten?
Nein, europäische Bürger, die sich bereits in der Schweiz aufhalten, haben nichts zu befürchten. Sie profitieren von so genannten erworbenen Rechten, d.h. es wird ihnen kein Recht entzogen, das sie bereits ausgeübt haben.
Wer nach dem Ende des Abkommens in die Schweiz einwandern will, wird es dagegen schwerer haben. Natürlich wird dies weiterhin möglich sein, aber es wird nicht mehr als Recht betrachtet.
Wie wird das Verfahren für EU-Bürger aussehen, die nach einem Aus der Personenfreizügigkeit in die Schweiz kommen möchten?
Die Schweiz würde bei der Verweigerung von Aufenthaltsgenehmigungen über einen weiten Ermessensspielraum verfügen.
Wir würden zu der Situation zurückkehren, die vor Abschluss des Abkommens bestand. Das bedeutet, dass sie einen Antrag einreichen und alle erforderlichen Dokumente vorlegen müssen. Wenn es Quoten gibt, müssen diese auch eingehalten werden. Es wird keinen Automatismus mehr geben. Die Schweiz wird bei der Verweigerung von Aufenthaltsgenehmigungen über einen weiten Ermessensspielraum verfügen.
Wird sich ein solches Szenario auch auf das Recht auf Familienzusammenführung auswirken?
Europäische Staatsangehörige werden dieses Recht weiterhin ausüben können. Weniger klar wird die Situation jedoch für jene sein, die sich bereits in der Schweiz niedergelassen haben, aber noch nicht verheiratet sind. Es könnte sich als komplizierter erweisen, zukünftige Ehepartner aus dem Ausland mitzubringen.
Die Familienzusammenführung kann nicht vollständig verboten werden, da es sich um ein in der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiertes Grundrecht handelt. Ohne ein Abkommen wird es jedoch nicht mehr automatisch sein. Die Menschen werden dieses Grundrecht einfordern und erkämpfen müssen.
Der Staat hätte auch die Möglichkeit, weitere Barrieren zu errichten. Er könnte zum Beispiel eine Mindestaufenthaltsdauer für Migranten, die dieses Recht in Anspruch nehmen wollen, vorschreiben, was eine lange Trennung von der Familie bedeuten würde.
Welche Probleme könnten umgekehrt Schweizer Staatsangehörige haben, die in die EU umziehen wollen?
Ohne ein Abkommen können die Staaten auch Schweizerinnen und Schweizern das Recht auf Migration verweigern. Sie könnten auch Studierenden, die am europäischen Mobilitäts-Programm Erasmus teilnehmen wollen, die Aufenthaltsgenehmigung verweigern.
Mit ihrer Initiative will die SVP die Zuwanderung begrenzen, um die von ihr so genannte «Apokalypse in Zeitlupe», also eine Schweiz mit zehn Millionen Einwohnern, zu verhindern. Könnte die Abschaffung der Personenfreizügigkeit dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen?
Ich habe den Eindruck, dass die Auswirkungen auf die tatsächliche Zahl der Migranten geringer sein werden. Diejenigen, die bereits hier sind, könnten bleiben. Für Asylsuchende oder Drittstaatsangehörige wird sich nichts ändern.
Das Verfahren würde nur für jene Europäer komplizierter werden, die nach der Aufhebung des freien Personenverkehrs in die Schweiz kommen wollen. Der Rückgang der Einwanderung dürfte daher minimal sein.
Können wir die Folgen eines Ja zur Begrenzungs-Initiative mit denen des Brexit vergleichen?
Die Konsequenzen wären in der Tat ähnlich. Es wäre ein Swixit. Doch bei einem Ende der Personenfreizügigkeit würden die erworbenen Rechte bewahrt. Jene, die dieses Recht schon beansprucht haben, könnten es also beibehalten. Grossbritannien dagegen hat beim Brexit nicht einmal diese Gewissheit.
Der freie Personenverkehr mit der EU hat die Migration in der Schweiz verändert, stellt der Demograf Jonathan Zufferey fest.
Seit dem Inkrafttreten des Abkommens im Jahr 2002 registrierte er eine Zunahme der Zahl der Migranten fest, die sich langfristig in der Schweiz niederlassen.
«Mehr Bewegungsfreiheit führt zu mehr Stabilität. Paradoxerweise befinden wir uns in einer zunehmend globalisierten Welt, in der das Reisen immer einfacher wird, aber immer mehr Menschen sich für Stabilität entscheiden», lautet sein Fazit.
Vor 2002 waren viele Migranten aus wirtschaftlichen Gründen gekommen. «Es handelte sich hauptsächlich um Saisonarbeiter, die nicht die Möglichkeit hatten, sich mit ihren Familien niederzulassen. Dieses Modell der Mobilität gibt es nicht mehr», sagt Zufferey.
Er glaubt jedoch, dass die Aufgabe der Bewegungsfreiheit nur marginale Auswirkungen auf die Zahl der Migranten haben wird. «In der Schweiz sind die Migrationsschwankungen weitgehend von der Konjunktur abhängig. Auch ohne ein Abkommen werden Unternehmen weiterhin in der Lage sein, die von ihnen benötigten ausländischen Arbeitskräfte einzustellen.»
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