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Grenzen des Schweizer Modells für Brexit

Wenn die Briten aus der EU austreten würden, erhielten sie den Fünfer und das Weggli (to have their cake and eat it), versprechen Euroskeptiker. Laut ihren Gegnern ist das Bockmist. Keystone

Wenn Grossbritannien am 23. Juni für einen Ausstieg aus der Europäischen Union (EU) stimmt, könnten sich die Verhandlungen nach einem Brexit an den bilateralen Abkommen zwischen Bern und Brüssel orientieren, sagen Euroskeptiker. Blödsinn, erwidern die Gegner. Sie weisen auf die Schwierigkeiten hin, mit denen die Schweiz beim Zugang zum europäischen Binnenmarkt konfrontiert ist, sowie auf deren Abwesenheit bei den Entscheidungsprozessen der EU.

«Ich will ein ‹Britzerland› schaffen», sagte Boris Johnson, damaliger Bürgermeister von London und Vorkämpfer der EU-Gegner, gegenüber der rechtskonservativen Zeitschrift «Die WeltwocheExterner Link» im Dezember 2012.

Seine Vision war es, dass Grossbritannien und die Schweiz Gründungsmitglieder «einer neuen Allianz ausserhalb der europäischen Union» würden. Diese Allianz könnte laut Johnson vom Freihandel in der Eurozone profitieren und hätte in den Verhandlungen etwas zu den Bedingungen dieser Handelsvereinbarungen zu sagen, ohne die anderen Integrationsmassnahmen der EU übernehmen zu müssen.

Seither sind viele andere Anhänger eines Brexits (Ausstieg Grossbritanniens aus der EU) überzeugt, dass das Schweizer Modell eine erfolgreiche Zukunft verspreche, in der die Länder ausserhalb der EU prosperieren, Freihandels-Abkommen mit beliebigen Staaten unterzeichnen und ihre Grenzen selber kontrollieren.

Was ist Brexit?

Brexit (British exit) wird die Volksabstimmung genannt, bei der Grossbritannien über einen Austritt oder ein Verbleiben in der EU entschiedet. Grossbritannien war dem Zusammenschluss europäischer Staaten, damals Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) genannt, 1973 beigetreten.

Der nationale Volksentscheid findet am 23. Juni statt. Laut Meinungsumfragen wird der Entscheid sehr knapp ausfallen. Britische Bürger, die länger als 15 Jahre im Ausland leben, haben kein Stimmrecht.

«Die Schweiz zeigt den Weg auf, wenn wir die EU verlassen», erklärte «The Sun», ein britisches Anti-EU-Boulevardblatt.

Ob Grossbritannien die europäische Staatengemeinschaft verlässt, in der das Land seit 1973 Mitglied ist, entscheidet das britische Stimmvolk am 23. Juni. Laut Umfragen dürfte die Abstimmung knapp ausgehen.

Zugang zum Binnenmarkt

Auf diese Weise könnten die Britten den Fünfer und das Weggli bekommen, so wie es die Schweizer in den Augen der Euroskeptiker vormachen.

Würde das Schweizer Modell den Britten behagen? «Nein, das Schweizer Modell taugt für Grossbritannien aus verschiedenen Gründen nicht», sagt Hugo Dixon, Herausgeber von «InFactsExterner Link«, einer journalistischen Plattform, die ins Leben gerufen wurde, damit das Land in der EU bleibt.

«Erstens ist – wie in der Schweiz – Grossbritanniens Finanzbranche der wichtigste Wirtschaftssektor des Landes. Als EU-Mitglied kann Grossbritannien innerhalb der ganzen EU Finanzdienstleistungen anbieten, ohne dafür die Aktivitäten in Länder wie Frankreich, Deutschland oder Italien verlagern zu müssen.» Die Schweiz habe diesen Zugang zwar auch verlangt, aber nicht bekommen, sagt Dixon gegenüber swissinfo.ch.

«Zum Teil als Folge davon führen grosse Schweizer Finanzinstitute ihr Investmentbanking von London aus. Wenn die EU mit Grossbritannien ein Abkommen wie jenes mit der Schweiz abschliessen würde, müssten die Britten einen Teil ihrer Finanzdienstleistungen entweder auf den Kontinent oder nach Irland auslagern.»

Die Schlüsselfrage bei allen Post-Brexit-Verhandlungen wird jene über den Zugang zum Binnenmarkt sein. Liefert die Schweiz eine Antwort darauf? Rund 55% der britischen Exporte werden auf dem EU-Markt abgesetzt, 6% davon in der Schweiz. Die Schweizer RegierungExterner Link hat bestätigt, dass die Markt-Zutrittsschranken für die Schweiz einen wirtschaftlichen Nachteil bedeuteten.

«Ohne Rechtssicherheit beim EU-Marktzugang liegen die grenzüberschreitenden Geschäfte der Schweizer Banken in einer (rechtlichen) Grauzone. Finanzintermediäre zum Beispiel können ihre EU-Geschäfte nur über Niederlassungen in der EU ausweiten. Dadurch verliert die Schweiz Arbeitsplätze, Wertschöpfung und Steuereinnahmen. Schwieriger wird es dabei auch, Synergien zu nutzen und die Finanzdienstleistungen wirtschaftlich abzuwickeln», hielt die Regierung 2009 fest.

Freier Personenverkehr

Ein zweiter Stein des Anstosses ist für Brexit-Anhänger die Immigration. Viele wollen dem freien Personenverkehr ein Ende setzen – eine der Grundfreiheiten der EU – und sich von Brüssel nicht vorschreiben lassen, wer immigrieren darf und wer nicht (Grossbritannien kann heute allerdings aus Sicherheitsgründen EU-Bürgern die Einreise verweigern).

Der Haken dabei sei, dass es heute «praktisch unmöglich ist, vollen Zugang zum Binnenmarkt zu erhalten, ohne den freien Personenverkehr zu akzeptieren», sagt Dixon. Viele Euroskeptiker in Grossbritannien wollen zum Teil als Folge davon das Schweizer Modell nicht kopieren.

«Die Schweizer müssen den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU akzeptieren. Das würde den Vorstellungen der Euroskeptiker in Grossbritannien nicht entsprechen», sagt er.

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Aber was genau wollen die Euroskeptiker? Das Pro-EU-Lager hat den Mangel an Detailinformationen hervorgehoben, die ihre Gegner über das Leben nach der EU geliefert haben. Am 20. April sagte Michael Gove, Staatssekretär im Justizministerium und offizieller Leiter der Austrittskampagne,Externer Link dass sich Grossbritannien mit Ländern wie Bosnien, Serbien, Albanien und der Ukraine zu einer europäischen Freihandelszone zusammenschliessen werde.

Matthew Elliott, Vorsitzender der Austrittskampagne, sagte gegenüber swissinfo.ch, dass es ein auf Grossbritannien «massgeschneidertes Modell» geben werde.

«Aber wir sind der Ansicht, dass das Schweizer Abkommen besser ist, als jenes der Norweger – Letztere müssen die Direktiven aus Brüssel vollumfänglich akzeptieren, um Zugang zum Binnenmarkt zu bekommen. Wir bevorzugen ein Abkommen auf bilateraler Basis, wie es die Schweiz hat, aber ich gehe davon aus, dass es einzigartig sein wird», sagte er an einer von der Britisch-Schweizerischen HandelskammerExterner Link organisierten Debatte in Genf.

EU-Widerwille

Berns angespannte Beziehungen mit Brüssel wurden im Februar 2014 erneut auf die Probe gestellt, als 50,3% der Stimmenden für eine Einwanderungsbremse votierten. Die Schweizer Regierung versucht immer noch, diesen Verfassungsartikel umzusetzen, ohne dabei die Personenfreizügigkeit zu verletzen.

Ausserdem gehen die Euroskeptiker davon aus, dass im Fall eines Brexits und eines Abkommens, das dem schweizerischen ähnlich wäre, die EU den Ball aufnehmen würde. Die Schweiz beschert der EU bereits Kopfzerbrechen, und es scheint unwahrscheinlich, dass die EU Lust auf gleiche Probleme mit Grossbritannien hat.

«Brüssel hat keine Zweifel offen gelassen, dass es mit der Schweiz keine Neuverhandlungen zum Personenfreizügigkeits-Abkommen wünscht. Es gibt in der EU grossen Widerwillen, ein Schweizer Abkommen zu wiederholen», sagt Dixon.

«Ausserdem gibt es auch grossen Widerstand seitens der EU, die Trennung von Grossbritannien zu pfleglich zu gestalten. Sie werden sehr darauf bedacht sein, dass Grossbritannien bei einem Ausscheiden nicht zu glimpflich davon kommt und kein vorteilhaftes Abkommen erhält, weil dies andere EU-Staaten dazu verleiten könnte, ebenfalls Sonderwünsche anzubringen, wodurch das Ganze auseinanderfallen würde.»

Freihandels-Abkommen

Unentwegte britische Euroskeptiker blicken mit Wehmut auf das Freihandels-Abkommen der Schweiz mit China.

«Es stimmt, dass wir freie Hand hätten, Freihandelsverträge auszuhandeln. Aber das wäre eine schlechte Idee. Wenn wir auf uns allein gestellt sind, sind die Chancen für einen vorteilhaften Vertrag geringer, als wenn wir den mit 500 Millionen Leuten weltweit grössten Markt und in die Waagschale werfen können», sagt Dixon.

«Nehmen Sie China! Der Schweizer Vertrag mit China war sehr unausgeglichen, weil es den Schweizer Markt für chinesische Produkte sofort öffnet, aber den chinesischen Markt für Schweizer Produkte nur schrittweise, über mehrere Jahre hinweg.»

Grossbritannien und die Schweiz müssen auch ihren Beitrag ans EU-Budget leisten.

«Man kann nicht den Fünfer und das Weggli haben», folgert Dixon. «Wenn wir einen uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt wollen, bleiben wir gescheiter in der EU, wo wir die Regeln mitbestimmen anstatt nur übernehmen können. Wenn wir weder den freien Personenverkehr ablehnen und auch keinen Beitrag ans EU-Budget leisten wollen, müssen wir akzeptieren, dass wir keinen uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt erhalten. Das wird negative Folgen für den Arbeitsmarkt und den Wohlstand haben.»

Grossbritannien und die EU

25. März 1957: Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge durch Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland wird die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet. Grossbritannien lehnt einen Beitritt ab und schlägt die Schaffung einer Europäischen Freihandels-Assoziation mit der Schweiz, Schweden, Norwegen, Dänemark, Österreich und Portugal vor.

1961: Angesichts des ökonomischen Wachstums in der EWG realisiert die britische Regierung, dass sie aufs falsche Pferd gesetzt hat. Sie beantragt Verhandlungen für einen Beitritt zur EWG.

1963 und 1967: Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle legt das Veto gegen einen Beitritt Grossbritanniens ein.

1970: Nach dem Rücktritt von de Gaulle beginnen die Beitrittsverhandlungen unter dem pro-europäischen konservativen Premierminister Edward Heath.

Januar 1973: Grossbritannien tritt, gemeinsam mit Irland und Dänemark, der EWG bei.

Oktober 1974: Die Labour-Partei gewinnt unter Harold Wilson die Wahlen. Ein Grundsatzpapier in den Wahlversprechen hatte den Verbleib in der EWG in Aussicht gestellt.

Juni 1975: In einer Volksabstimmung sprechen sich zwei Drittel der Stimmenden für einen Verbleib in der EWG aus. Sämtliche nationalen Zeitungen sowie die künftige Premierministerin Margaret Thatcher unterstützen einen Verbleib.

Januar 2013: In einem Versuch, seine Partei zu einigen, kündigt Premierminister David Cameron eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft an, falls die Konservativen die Wahlen von 2015 gewinnen sollten (was diesen gelingt).

Juni 2016: Abstimmung über einen Verbleib oder Austritt aus der EU.  

(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)

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