Perinçek-Urteil spaltet Schweizer Presse
Der endgültige Entscheid des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR), das die Verurteilung des türkischen Nationalisten Dogu Perinçek durch die Schweizer Gerichte aufgehoben hat, reisst auch in den Schweizer Medien einen Graben auf: Die einen begrüssen ihn als Sieg der Meinungsäusserungs-Freiheit, während für andere jeglicher Form des Leugnung von Genozid strafbar bleiben soll.
Der Fall beschäftigt die Schweizer Justiz seit zehn Jahren: 2005 hatte der türkische Ultranationalist Dogu Perinçek bei Auftritten in der Schweiz mehrmals den Genozid der Türken an den Armeniern von 1915 als «internationale Lüge» bezeichnet. Wegen Verstosses gegen die Antirassismus-Strafnorm wurde er 2007 zu einer bedingten Geldstrafe und zu einer Busse von 3000 Franken verurteilt.
Der Türke ging in die Berufung, verlor Ende 2007 jedoch auch vor Bundesgericht. 2013 taxierte der EGMRExterner Link das Schweizer Urteil, weil es eine Verletzung der Meinungsäusserungs-Freiheit darstelle. Die Schweiz appellierte ihrerseits, mit dem Entscheid von gestern ist ihr Einspruch nun endgültig vom Tisch.
«Niederlage für Schweizer Justiz», titelt die Neue Luzerner Zeitung. «Strafnorm ist geschwächt», schreibt der Walliser Bote. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zum Fall Perinçek stellt die Antirassismus-Strafnorm nicht infrage. Aber es wird juristische Folgen für die Schweiz haben: Die Strafnorm könnte revidiert oder künftig zurückhaltender angewendet werden», schreibt die Zeitung vorsichtig.
Da präsentiert sich die Lage für die Basler Zeitung schon viel klarer. Die juristische Begründung des EGMR ändere nichts an der Tatsache, dass mit dem Urteil die hiesige Antirassismus-Strafnorm infrage gestellt werde. «Die konsequenten Befürworter der Unterstellung des Schweizer Rechts unter den Strassburger Gerichtshof müssten nun ausgerechnet der SVP Hand bieten, die Strafnorm einzuschränken oder abzuschaffen», frohlockt die BaZ, die sich im Besitz von Christoph Blocher befindet. Der Chefdenker der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei war schon als Justizminister der Schweiz ein erklärter Gegner der Strafnorm. Das Ziel, diese abzuschaffen, figuriert bis heute auf seiner Agenda.
Causa Perinçek
Der Fall des türkischen Nationalisten Dogu Perinçek beschäftigt die Justiz seit zehn Jahren. Sie ist zum Schweizer Inbegriff des Spannungsfelds zwischen Meinungsäusserungsfreiheit und Genozidleugnung geworden.
– Mai, Juli und September 2005: Dogu Perinçek nimmt in der Schweiz an Versammlungen teil, wo er den Genozid an den Armeniern als «internationale Lüge» bezeichnet.
– 15. Juli 2005: Die Gesellschaft Schweiz-Armenien reicht eine Strafanzeige gegen Dogu Perinçek ein.
– 9. März 2007: Das Strafgericht in Lausanne verurteilt Dogu Perinçek wegen Rassendiskriminierung gemäss Artikel 261bis alinea 4 des Strafgesetzbuchs zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 100 Franken und einer Busse von 3000 Franken.
– 26. Mai 2007: Das Kassationsgericht des Kantons Waadt bestätigt das Urteil.
– 12. Dezember 2007: Das Bundesgericht weist die Beschwerde von Dogu Perinçek ab und bestätigt den Entscheid der Vorinstanz.
– 17. Dezember 2013: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kommt zum Schluss, dass die Verurteilung von Dogu Perinçek Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, also die Meinungsäusserungsfreiheit, verletzt.
– 11. März 2014: Die Schweiz zieht den Fall an die Grosse Kammer des EGMR weiter.
– 15. Oktober 2015: Die Grosse Kammer des EGMR bestätigt ihr erstes Urteil: Die Schweiz habe mit der Verurteilung die Meinungsäusserungsfreiheit von Perinçek verletzt.
(Quelle: sda)
SVP im Zwiespalt
Die Südostschweiz lässt es sich als einzige Zeitung nicht nehmen, auf den Widerspruch hinzuweisen, welcher der SVP aus dem Schiedsspruch der Richter im französischen Strassburg erwachsen könnte. Blocher als damaliger Justizminister sei mit seiner Forderung bei seinen Bundesratskollegen abgeblitzt, die Strafnorm aufzuweichen. «Dass nun der EGMR Blocher Sukkurs gibt, wird nicht alle Parteikollegen freuen, kämpfen sie doch verbissen gegen ebensolche ‹fremde Richter'».
«Sukkurs für die freie Rede»: So begrüsst die Neue Zürcher das Urteil. Mit der Strafnorm gegen Rassendiskriminierung, die stark vom Zeitgeist der 1990er-Jahre und der damals vorherrschenden politischen Korrektheit geprägt sei, habe sich die Schweiz für eine ausgesprochen strenge Linie entschieden, die nicht zu ihrer sonst eher liberalen Haltung passe und die auch im europäischen Vergleich als besonders rigid heraussteche.
«Der Strassburger Gerichtshof gewichtet die Meinungsäusserungs-Freiheit denn auch richtigerweise höher, als dies die Schweiz heute tut», atmet die NZZ auf. Das Gericht betone, dass eine demokratische Gesellschaft solche Auseinandersetzungen zulassen müsse – «es sei denn, es handle sich um den Holocaust, dem ein besonderer Stellenwert zugestanden und der als historisches Faktum anerkannt wird. Diese Grundhaltung sollte sich auch in der Schweiz wieder durchsetzen.»
Wird es jetzt hässlich?
«Freiheit für Meinungen, die schockieren»: Auch Le Temps aus der Westschweiz begrüsst die Höhergewichtung des Grundrechts, so schmerzlich der historische Hintergrund der Angelegenheit auch sei. Meinungsfreiheit gelte nicht nur für harmlose Ideen, sondern auch für solche, die verletzen, schockieren oder beunruhigen würden. «So wollen es Pluralismus, Toleranz und Geist der Offenheit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gibt.»
«Gute Einmischung», schreibt der Blick. Wenn sich der Gerichtshof in Strassburg zur Schweiz äussere, gebe es stets Alarm. Das gestrige Urteil zeige nun aber, wie falsch die Verteufelung des EGMR sei. «Die Strassburger Rechtsgelehrten haben die Meinungsfreiheit im Fall Perinçek über die Empfindungen der Armenier gestellt. Ihre Begründung zeugt von Klarsicht, Mut und grossem Respekt gegenüber der Redefreiheit. Man kann nur hoffen, dass die Schweizer Justiz sich in dieser Hinsicht ein Vorbild an fremden Richtern nimmt.»
«Ein Sieg der Forschung über die Juristerei», schreibt das Bündner Tagblatt. Die Causa des türkischen Ultranationalisten beschäftige die Justiz seit zehn Jahren. Sie sei zum Schweizer Inbegriff des Spannungsfelds zwischen Meinungsäusserungsfreiheit und Genozidleugnung geworden. «Das gestrige Urteil des Strassburger Menschengerichtshofes ist nicht nur ein Sieg für die Meinungsfreiheit, sondern auch und vor allem für ein differenziertes Geschichtsbild.» Denn geschichtliche Abläufe seien «nie ganz schwarz und nie ganz weiss».
Ganz anderer Meinung ist die Berner Zeitung: «Verbeugung vor der Meinungsäusserungsfreiheit», lautet der Titel ihres Kommentars. «Den Völkermord an den Armeniern in der Schweiz als «internationale Lüge» zu bezeichnen, muss man laut den europäischen Richtern (…) dürfen können. Anders gesagt: Ob es den Völkermord an den Armeniern gab, hält der Menschenrechtsgerichtshof für diskutabel.»
Mindestens so sehr wie für die Armenier sei die Strassburger Verbeugung vor der Meinungsäusserungs-Freiheit aber eine Niederlage für die Schweiz. «Die Anti-Rassismus-Strafnorm, aufgrund der Perinçek gebüsst worden war, hat den europäischen Belastungstest nicht bestanden.» Nun werde es kaum lange dauern, bis das umstrittene Regelwerk auch politisch wieder stärker unter Druck komme, glaubt die BZ.
«Nicht nachvollziehbar»
«Das Gericht schadet sich selbst», schreiben Tages-Anzeiger und Der Bund. Problematisch sei weniger, dass nun ein Leugner des Genozids an den Armeniern straffrei davonkomme. «Viel bedenklicher ist es, dass der EGMR eine Gewichtung zwischen Völkermorden vornimmt. Wer den Holocaust leugne, rufe damit automatisch zu Rassenhass auf, sagen die Strassburger Richter. Wer aber den Genozid an den Armeniern leugne, habe nicht zwingend die Absicht, Hass zu säen. Diese Unterscheidung ist nicht nachvollziehbar.»
La Liberté aus Freiburg spricht von einem «Juristischen Wirrwarr», den der EGMR angerichtet habe. Einerseits weise dessen Urteil keinen Ausweg aus der Polemik über die Anerkennung des Genozids an den Armeniern. Der Schweizer Gesetzgebung werde andererseits das Urteil noch arges Kopfzerbrechen bereiten. Denn angesichts der formellen Anerkennung des Genozids 2003 durch den Nationalrat gebe es kein Zurück. «Eine Aufweichung der Strafnorm wäre die schlimmste Beleidigung für die Opfer des Völkermordes. Damit würde sich die Schweiz auf die gleiche Stufe wie Dogu Perinçek setzen.»
Von Völkermord und Massenmord
Einen anderen Weg geht die Aargauer Zeitung. Sie taucht ganz tief in die juristische Materie ein und nimmt eine sorgfältige Abwägung der verschiedenen Rechtsgüter in Angriff.
«Die Einschränkung der Meinungsäusserungs- und Redefreiheit ist eine der schwierigsten Operationen, die ein demokratischer Rechtsstaat überhaupt vornehmen kann». Mit der Anti-Rassismus-Strafnorm habe die Schweiz primär die Leugnung des Holocausts verhindern wollen. Um aber einen reinen «Nazi-Paragrafen» zu verhindern, sei die Strafnorm ausgeweitet worden auf Aufrufe zu offener Diskriminierung und Gewalt.
Perinçek habe zwar den Begriff «Genozid» zur «internationalen Lüge» erklärt, damit aber nicht direkt zur Diskriminierung, Hass oder Gewalt aufgerufen, findet die Aargauer Zeitung.
«Perinçek will auch nicht direkt leugnen, dass die Armenier vertrieben wurden. Es geht um die Einschätzung ‹Völkermord›. Von der Definition her ist die Armenier-Vertreibung ein Genozid und nichts anderes. Werden Angehörige einer Volksgruppe in katastrophalem Ausmass nur deshalb verfolgt, vertrieben oder getötet, weil sie zu dieser Volksgruppe gehören, handelt es sich klar um Völkermord. Und die Armenier wurden im Ersten Weltkrieg vertrieben, weil sie Armenier waren. Das ist auch historisch recht gut belegt.» Dennoch werde diese Definition den Ruch der Zirkularität nicht leicht los. «Wer wegen ‹Volk-‹ mordet, begeht ‹Völkermord› – ist ein Massenmord ohne ‹Volk-‹ weniger schlimm?», lautet die Schlussfrage, die offen bleibt.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Der Gerichtshof überwacht seit 1959 die Einhaltung der im Jahr 1950 geschaffenen Europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK) in den 46 Mitgliedstaaten mit insgesamt 800 Mio. Menschen. Jeder Mitgliedstaat stellt einen Richter. Die Schweiz hat die EMRK 1974 ratifiziert.
Um an den Gerichtshof in Strassburg zu gelangen, müssen alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft sein.
In der Schweiz ist das Bundesgericht in Lausanne die letzte Instanz.
Beschwerden können in 41 Sprachen eingereicht werden, Amtssprachen am Gerichtshof sind Französisch und Englisch.
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