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Europäischer Migrationspakt: Wie Solidarität «gerecht» verteilen?

Migranten aus dem Lager Moria bereiten sich darauf vor, Lesbos nach dem Brand zu verlassen
Das Feuer im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos brachte Tausende von Menschen zurück auf die Strasse. Copyright 2020 The Associated Press. All Rights Reserved

Wie könnte eine ausgewogene Verteilung der Asylsuchenden in Europa aussehen? Eine Arbeitsgruppe des Migrationsspezialisten Etienne Piguet hat diese heisse politische Kartoffel angepackt und einen Verteilschlüssel erarbeitet. SWI swissinfo.ch sprach mit ihm, nachdem die Europäische Union gerade einen Entwurf zur Reform ihrer Migrationspolitik vorgelegt hat.

Es war ein Rekordzustrom nach Europa im Jahr 2015. Eine Million Flüchtlinge drängten in Länder der Europäischen Union (EU). Schon damals zeigte sich auf grausame Weise ein Ungleichgewicht zwischen jenen Ländern, die an den EU-Aussengrenzen stehen (besonders Griechenland, Italien und Spanien), und anderen, die ihre Grenzen schlossen (besonders die Mitglieder der «Visegrad-Gruppe»: Ungarn, Polen, Tschechische Republik und Slowakei).

Anfang September brachte das Drama von Moria auf der griechischen Insel Lesbos das Thema wieder ins Rampenlicht. Das Feuer in dem überfüllten Flüchtlingslager warf Tausende von Migrantinnen und Migranten zurück auf die Strasse.

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Zwei Wochen später stellte die EU ihren Migrationspakt vor. Angesichts des Scheiterns des Dublin-AbkommensExterner Link versucht das Reformprojekt erneut, die Verantwortlichkeiten «gemeinsam und solidarisch» stärker zwischen den Staaten zu verteilen.

Der am 23. September vorgestellte Migrationspakt erkennt das Scheitern der Quoten an, die nach der Krise von 2015 eingeführt worden waren.

Hier die wichtigsten Massnahmen:

– Einführung eines «Screening»-Verfahrens für Antragstellende an den Aussengrenzen der EU. So sollen jene, die am wenigsten wahrscheinlich internationalen Schutz erhalten, früher identifiziert werden können.

– eine starke Hinterfragung des Dublin-Abkommens (das dem ersten Einreiseland die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags überträgt) mit einer Erweiterung der Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Landes. Ziel ist es, den Druck auf die Menschen an der Front zu verringern.

– Einführung eines «obligatorischen Solidaritätsmechanismus», der ausgelöst werden könnte, wenn ein Land einem «Migrationsdruck» ausgesetzt ist, dem es allein nicht standhalten kann: Alle Staaten wären dann verpflichtet, entsprechend ihrem wirtschaftlichen Gewicht und ihrer Bevölkerung einen Beitrag zu leisten.

– Um den hartnäckigen Widerstand einiger Länder gegen die Aufnahme von Flüchtlingen zu umgehen, könnte dieser Beitrag in Form der Überwachung der Rückkehr abgelehnter Personen oder als logistische Hilfe geleistet werden.

Die Europäische Kommission plant auch Massnahmen zur Intensivierung der Rückkehr in die Herkunftsländer und zur Förderung der «legalen» Einwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte.

«Es besteht ein grosses Ungleichgewicht zwischen dem, was ist und dem, was die Verteilung der Asylsuchenden ’sein sollte›.»

Etienne PiguetExterner Link, Professor für Geographie an der Universität Neuenburg, bedauert, dass erst dann überhaupt Fortschritte gemacht wurden, «als die Aufnahmebedingungen auf den griechischen Inseln unerträglich wurden».

Zusammen mit seinem Team versuchte der Spezialist für Migrationsströme und -politik, eine «gerechte» Verteilung der Flüchtlinge auf europäischer Ebene aus rein quantitativer Sicht darzustellen.

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Ein im Rahmen eines nationalen Forschungsschwerpunkts speziell entwickeltes Tool vergleicht die Zahl der seit 2008 von jedem Land aufgenommenen Asylsuchenden (rote Halbkreise) mit der Zahl, die unter Berücksichtigung verschiedener Parameter «fair» wäre (graue Halbkreise).

Bei der Wahl dieser Kriterien steht jedoch politisch viel auf dem Spiel. Denn die Bevölkerungszahl ist das am häufigsten verwendete Kriterium zur Bestimmung der Zahl der Flüchtlinge, die aufgenommen werden sollen.

So zeigt die Karte etwa, dass die Schweiz 14’200 Asylsuchende aufgenommen hat, während sie bei alleiniger Berücksichtigung des Bevölkerungsparameters (d.h. rund 1,8% der EU- und EFTA-Bevölkerung insgesamt) nur 11’800 Menschen hätte aufnehmen können.

Auf der Grundlage des demografischen Kriteriums erhielt Griechenland den grössten Überschuss an Asylsuchenden. Aber auch für Schweden, Deutschland, Belgien, Frankreich und Spanien sind die Zahlen höher. Auf der anderen Seite erhielten neben den osteuropäischen Ländern auch Portugal, Norwegen, Dänemark und das Vereinigte Königreich weit weniger Asylsuchende, als sie verkraften könnten.

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«Die Schweiz tut, was sie tun muss, um nicht zu scheitern, aber nicht mehr als das.»

Einige Beobachter sind jedoch der Meinung, es sollten auch andere Parameter wie der Reichtum der Länder, der Zustand ihrer Arbeitsmärkte oder ihre Fläche für eine gerechte Verteilung in Betracht gezogen werden.

Nehmen wir nochmals die Schweiz als Beispiel. Wenn der vorherrschende Parameter nicht mehr die Demographie, sondern der Wohlstand ist, dann hätten mehr als 27’000 Asylsuchende in der Schweiz aufgenommen werden müssen.

Und wenn man ihre sehr niedrige Arbeitslosenquote als einzigen Parameter nimmt, hätte die Schweiz im vergangenen Jahr fast 30’000 Flüchtlinge aufnehmen «müssen».

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Natürlich ist diese Argumentation eine theoretische Veranschaulichung und extrem vereinfacht. Das Geografische Institut der Universität Neuenburg bezieht sich auf eine Studie der Stiftung MercatorExterner Link von 2013.

Diese schlug vor, das Bruttoinland-Produkt (BIP) und die Bevölkerung mit 40% und die Arbeitslosigkeit und die Fläche mit 10% zu gewichten. Nach dieser Gewichtung hätte die Schweiz im Jahr 2019 5000 weitere Personen aufnehmen sollen.

Das Tool zeigt auch, dass einige Länder seit 2008 chronisch offen oder geschlossen sind, während andere abwechselnd geöffnet oder geschlossen wurden. Dies ist der Fall bei der Schweiz, die sich seit 2015 eher in einer Phase der Schliessung zu befinden scheint. «Die Schweiz tut, was sie tun muss, um nicht zu scheitern, aber nicht mehr als das», sagt Piguet.

«Die Schweiz ist sehr vorsichtig, nicht als eines der geschlossenen Länder Europas dazustehen. Aber sie ist keineswegs ein besonders proaktives Land. Es besteht ein Kontrast zwischen ihrer humanitären Tradition (…) und ihrer politischen Aktivität, die nur gerade beiträgt, was sie muss.»

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Welche Kriterien berücksichtigen? Eine politische Frage

Alle diese oder andere Parameter zu berücksichtigen, oder nur einen einzigen beizuziehen: Das muss Gegenstand politischer Verhandlungen sein.

«Das Ziel ist nicht, eine gerechte Verteilung vorzuschlagen, sondern die grundlegenden Informationen zu geben», sagt Piguet. Der Spezialist ist überzeugt, dass diese Daten zum Nachdenken anregen könnten, um einen Verteilungsschlüssel zu definieren.

Seiner Ansicht nach ist es in jedem Fall entscheidend, objektive Kriterien für die Migrationssteuerung anzunehmen. Einerseits, um zu verhindern, dass bestimmte Länder sich ihren Verpflichtungen entziehen. Andererseits, um die öffentliche Unterstützung zu fördern.

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Deshalb begrüsste er den neuen europäischen Migrationspakt auf «vorsichtige» und «eher positive» Weise. Das Projekt wurde heftig kritisiert, speziell von Nichtregierungs-Organisationen (NGO). Sie werfen der EU vor, dass sie sich den einwanderungsfeindlichen Regierungen beuge. Denn sie erlaube ihnen, die Aufnahme von Flüchtlingen zu verweigern.

«Man kann kaum auf etwas Befriedigenderes hoffen als den von der EU vorgeschlagenen Migrationspakt.»

«Ich denke, wir können kaum auf etwas Befriedigenderes hoffen als auf das, was vorgeschlagen wird», kommentiert der Professor pragmatisch.

«Wir müssen den Ländern [die wenig oder gar nicht bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen] Ausweichmöglichkeiten bieten, damit sie nicht in eine absolute Blockade geraten, die das ganze Projekt ruinieren könnte.»

Die Verhandlungen zwischen den europäischen Ländern haben noch nicht begonnen. Es wird wahrscheinlich mehrere Monate dauern, bis alle ihre Positionen geklärt haben.

Aber die widerstrebendsten osteuropäischen Länder gaben bereits bekannt, dass sie sich gegen die Zwangsumsiedlung von Flüchtlingen auf ihr Territorium wehren werden.

Der neue europäische Migrationspakt sieht in der vorgestellten Form ein Modell der Personenverteilung vor, das an Schweizer Modell erinnere, analysiert Etienne Piguet.

Es handelt sich dabei um einen zweistufigen Prozess. Zunächst wird eine erste Beurteilung der Asylgründe bei der Ankunft durchgeführt. In der Schweiz wird diese «Vorabprüfung» von den föderalen Zentren vorgenommen. Anschliessend werden Asylsuchende auf die Kantone im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl aufgeteilt. Deutschland geht bei der Verteilung in die verschiedenen Bundesländer ähnlich vor.

Was der Migrationspakt vorsieht, ist sozusagen die Reproduktion dieser Logik in grösserem Massstab, mit einer Verteilung der Menschen auf die Aufnahmeländer und «ganz erheblichen Herausforderungen».

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