Europas stille Demokratie-Revolution
Russlands Krieg in der Ukraine verschiebt die Machtverhältnisse in Europa. In der EU wächst der Wunsch und die Forderung nach Mitsprache von unten. Ein Sprungbrett war die Frontex-Abstimmung in der Schweiz.
Zum ersten Mal überhaupt konnten sich am Wochenende Stimmbürger:innen über den Ausbau einer bestimmten EU-Agentur in einer Volkabstimmung äussern. Bemerkenswert dabei: Der Volksentscheid fand nicht in einem EU-Land statt, sondern in der Schweiz. 71,5% der Stimmenden sprachen sich hier für einen Ausbau der Europäischen Agentur für Grenzschutz- und Küstenwache Frontex aus. Die Schweiz beteiligt sich als Schengen-Mitglied an der Finanzierung dieser Agentur.
Der Frontex-Entscheid war die 63. Volksabstimmung in einem europäischen Land zu einem europäischen Thema in den letzten fünfzig Jahren. Dreizehn davon fanden im Nicht-EU-Mitgliedsstaat Schweiz statt, das im Unterschied zu Dutzenden anderen Staaten jedoch noch nie direkt über einen Beitritt zur Europäischen Union angestimmt hat.
In der europäischen Öffentlichkeit sorgte die demokratische Ausmarchung für wenig Aufsehen. Derzeit sind alle Blicke auf den russischen Krieg in der Ukraine und dessen Folgen gerichtet. Europa ist damit beschäftigt, sich gegenüber Moskau besser abzusichern.
«Der Krieg in der Ukraine verändert Europas Selbstverständnis gerade im Schnellzugtempo», sagt Alberto Alemanno, Professor der Rechtswissenschaften an der New York University. Eine direkte Folge ist die in Gang gekommene Norderweiterung der westlichen Militärallianz Nato durch die bisher neutralen Staaten Finnland und Schweden.
Auch in Dänemark wird Anfang Juni über eine Annäherung des Landes an die Gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik abgestimmt. «Der Kampf der Ukraine ist nicht nur der der Ukraine, er ist ein Härtetest für alles, woran wir glauben, unsere Werte, Demokratie, Menschenrechte, Frieden und Freiheit“, sagte die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen bei der Ankündigung dieser nächsten Volksabstimmung über Europa. Somit folgt bereits im Juni die nächste Europaabstimmung, die 64.
Für den dänischen-britischen Politikwissenschafter Matt Qvortrup, der an der Universität Coventry lehrt, markieren diese Volksentscheide ein wichtiges Zeichen gegen den Autoritarismus, wie er sich in den letzten Jahren weltweit ausgebreitet hat: «Die Geschichte zeigt, dass Machthaber nur in Krisenzeiten bereit sind, ihre Macht mit Bürgerinnen und Bürgern zu teilen. Wir leben derzeit in einer solchen Zeit.»
Das wirkt sich auch auf die Europäische Union aus. Spürbar wurde der gegenwärtige Demokratisierungs-Impuls kürzlich mit den Ergebnissen der sogenannten «Zukunftskonferenz». «Der Ukraine-Krieg macht deutlich, dass sich die EU weiterentwickeln muss», sagte der Co-Vorsitzende der Konferenz, der frühere belgische Ministerpräsident Guy Verhofstadt, als die Ergebnisse präsentiert wurden.
An der vor einem Jahr einberufenen Konferenz beteiligten sich neben den Vertreter:innen der EU-Institutionen und aus den 27 Mitgliedsstaaten auch 800 zufällig ausgeloste Bürger:innen aus ganz Europa.
Man verständigte sich auf nicht weniger als 325 konkrete Vorschläge, darunter auch zentrale Demokratiereformen, wie die Einführung europaweiter Volksabstimmungen, gemeinsame Wahllisten für die EU-Parlamentswahlen und die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in vielen Politikbereichen.
«Das Momentum für einen demokratischen Quantensprung in Europa ist da», sagt Daniela Vancic, die beim Kölner Thinktank «Democracy International» die Zukunftskonferenz verfolgt hat: «Entscheidend wird nun sein, eine Mehrheit der Regierungen in den Mitgliedsstaaten davon zu überzeugen, einem Vertragsänderungsprozess zuzustimmen.»
Tatsächlich teilen in den zentralen EU-Institutionen selbst nunmehr Mehrheiten die wichtigsten Forderungen der «Zukunftskonferenz». Das EU-Parlament unterstützt die Einberufung eines Verfassungskonvents. Wenige Tage später erklärte der kürzlich wiedergewählte französische Staatspräsident und derzeitige EU-Ratsvorsitzende Emanuel Macron: «Wir werden unsere Texte reformieren müssen. Einer der Wege zu dieser Reform ist die Einberufung eines Konvents zur Revision der Verträge.»
Kleinere EU-Mitgliedsstaaten wehren sich zwar gegen diese Entwicklung, weil sie befürchten, dass eine EU-weite Stärkung von Demokratie-Instrumenten den Einfluss einzelner Staaten schwächen könnte. Doch bei den eigenen Bürger:innen rennt die «Zukunftskonferenz» offene Türen ein. Dies zeigt eine neue Studie des Forschungsinstitutes gfs.bern in der Schweiz.
Demnach befürworten zum Teil klare Mehrheiten der Bürgerinnen und Bürgern in sämtlichen EU-Mitgliedsstaaten die Möglichkeit künftig über europäische Sachthemen sowohl im Rahmen nationaler wie auch gemeinsamer europäischer Volksabstimmungen mitbestimmen zu können.
Ausgehend von der jüngsten Frontex-Volksabstimmung in der Schweiz analysiert die europäische Vergleichsstudie zudem, wie gross der Wunsch nach einer entsprechenden Abstimmung zur EU-Agentur in den verschiedenen Ländern ist: Bis auf die nordischen Staaten und die Niederlande begrüssen Mehrheiten auch hier die Möglichkeit eines Referendums.
Solche Bürgerentscheide, so betont Daniel Graf von der Stiftung für direkte Demokratie, einem der Auftraggeber der Studie, «machen deutlich, dass Referenden sehr effizient gesellschaftliche Diskussionen anzetteln». Der zweite Auftraggeber, der Ökonom Luzius Meisser stellt fest: «Europa ist reif für direkte Demokratie. Die Studie belegt, dass sich die Bevölkerung eine politische Meinung bilden kann und auch mehr mitbestimmen möchte.»
Hier geht es zur Studie von gfs.bern:
Frontex, Europa und die direkte Demokratie. Gfs.Bern
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