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Europawahlen – ein heilsamer Schock?

Siegerin in Frankreich: Marine Le Pen (Front National). Keystone

"Front National schockt Europa", "EU-kritische Parteien legen stark zu", "Protestparteien im Aufwind": Die Schweizer Presse berichtet ausführlich über die Europawahlen und den Vormarsch der Rechts-Populisten. Doch der Vormarsch ist nicht flächendeckend, und die Konservativen werden die stärkste Kraft im Parlament.

Der Aufstieg der Rechtspopulisten sei das «dominierende Thema» der Europawahlen» gewesen, schreibt die Aargauer Zeitung und folgert: «Nun müssen die pro-europäischen Parteien einen Umgang mit dem erstarkten politischen Gegner finden.»

Es gehe nun darum, «mit den Kritikern über die Vor- und Nachteile der EU weiter zu debattieren, denn die Wählersympathien für die Rechtspopulisten zeigen, dass sich diese Diskussion nicht unterdrücken lässt».

Dass die EU zu wenig Rückhalt habe bei den Bürgern, zeige sich «in einer teilweise miserablen Stimmbeteiligung». In Deutschland etwa, wo die Pro-Europäer einen «engagierten Wahlkampf» geführt hätten, seien sowohl die Stimmbeteiligung, wie auch die Unterstützung für die EU deutlich höher ausgefallen.

Viele Bürgerinnen und Bürger haben die Europawahl zu einem deutlichen Protest gegen Brüssel genutzt: EU-kritische Parteien verzeichneten grosse Stimmenzuwächse.

Insgesamt errang die konservative EVP die meisten Sitze im Europaparlament, gefolgt von den Sozialdemokraten.

Im neuen EU-Parlament werden einer Hochrechnung des Parlaments zufolge etwa 140 europafeindliche beziehungsweise europakritische Abgeordnete sitzen. Zugleich verlieren die stärksten Fraktionen Mandate.

Die Europäische Volkspartei EVP bleibt mit 212 Mandaten (28,23%) stärkste Kraft (zuvor 273); die Sozialdemokraten bleiben zweitstärkste Kraft (24,77%) und entsenden 186 Abgeordnete (zuvor 196). Drittstärkste Kraft (9,32%) bleiben die Liberalen mit 70 Abgeordneten (zuvor 83).

Wenig bürgernahe Institution

Die Wahl sei eine «Chance für eine Belebung Europas» titelt die Tribune de Genève und stellt fest, das Resultat sei «keine Überraschung» und entspreche praktisch den Umfragen im Vorfeld. «Nach Jahren der Krise und der Sparprogramme werden die Extremen der Rechten und der Linken zahlreicher sein im 751-köpfigen Parlament.»

Doch mit etwas mehr als hundert Sitzen sind «diese Euroskeptiker aus allen Lagern nicht in der Lage, das parlamentarische Leben eines der weltweit grössten demokratischen Parlamente zu blockieren».

Vielmehr sei das Erstarken der Euroskeptiker eine «einmalige Chance» für das Parlament in Strassburg, denn ihre Anwesenheit werde dazu führen, «dass jeder seine Ideen mit den Ideen anderer konfrontieren muss». Das werde eine Institution beleben, die als wenig bürgernah und abgehoben gelte.

Wahl der Überraschungen

Die Wahl sei ein «Signal», schreibt der Genfer Le Temps und stellt fest, dass die Wahlen auch zu Überraschungen geführt haben: «In Holland haben die extremen Rechten eine Niederlage erlitten, in Grossbritannien steigen die Europakritiker auf und Frankreich kassiert ein scharfe Warnung.»

In einer Demokratie müssten Wahlresultate ernst genommen werden, mahnt das Blatt und bemerkt: «Die Europäische Union teilt die Bürger stärker, als dass sie sie eint. Und sie stellt nicht die Antwort dar, die man von ihr erhofft.»

Abstrafung für Hollande

Der Wahlsieg des Front National, der in Frankreich 25% der Stimmen gewonnen hat und damit die stärkste Partei im Europaparlament geworden ist, «erschüttert das Establishment», titeln der Zürcher Tages Anzeiger und der Berner DerBund.

Der Sieg des Front National lasse sich erstens als «Abstrafung der Politik von Francois Hollande deuten» und treffe auch die bürgerliche Oppositionspartei UMP in einem «äusserst heiklen Moment». Denn die UMP sei durch ideologische Differenzen, persönliche Animositäten zischen den Exponenten und Skandale geschwächt. Eine Spaltung der UMP sei nun nicht mehr ausgeschlossen, «denn im rechten Flügel der Partei gibt es Leute, die eine Annäherung an den Front National nicht mehr ausschliessen möchten».

Spitzenkandidaten halfen wenig

Verschiedene Zeitungen verweisen auch auf die relativ tiefe Wahlbeteiligung, die besonders an der Peripherie besonders ausgeprägt war. Den Negativrekord stellte dabei die Slowakei mit 13% auf. In Deutschland betrug sie 48%. Grundsätzlich habe sich die Wahlbeteiligung seit den letzten Europawahlen «nicht besonders bewegt», stellt die Online-Ausgabe des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel fest.

Und dies, obschon die grossen Parteien zum ersten Mal bei einer Europawahl mit Spitzenkandidaten angetreten seien. «Die Spitzenkandidaten sollten der Europawahl ein zentrales Merkmal nationaler Wahlen verschaffen, das der Personalisierung, das der Zuspitzung im TV-Rampenlicht. Das liess hoffen, die Wahlbeteiligung würde derart steigen, dass die Populisten in allen Ländern klein gehalten werden könnten.»

Doch das habe nicht funktioniert, so Der Spiegel, obschon Jean-Claude Juncker für die Konservativen und Martin Schulz für die Sozialdemokraten sich «bis zur Erschöpfung» bemüht hätten «einen europaweiten Wahlkampf aufzuziehen».

Denkzettel-Wahlen

«Unter dem Strich haben sie die Wahlbeteiligung nicht besonders bewegt; am ehesten gelang es ihnen noch in Ländern wie Deutschland, denen es wirtschaftlich gut geht. Dagegen vermochte es ihr Duell in Ländern wie Frankreich, Italien, Großbritannien, Österreich oder Griechenland nicht, die heimischen Debatten und Befindlichkeiten zu verdrängen. Stattdessen rechneten die Wähler von links oder von rechts mit ihren jeweiligen Regierungen ab. Es waren, wie früher schon, Denkzettel-Wahlen.»

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