Im Auge des Sturms
Die nordirische Hauptstadt Belfast zieht immer mehr ausländische Unternehmen an, etwa die Zürcher Bank Julius Bär. Doch das Klima bleibt angespannt, gerade jetzt, wo die Europawahlen den Brexit-Streit wieder aufkochen lassen.
Heute ist Wahltag in Belfast. Im Grossen und Ganzen respektiert man hier das Friedensabkommen seit 20 Jahren. In der Innenstadt entstanden im letzten Jahr neue Hotels. Mitgerissen von einer neuen Wirtschaftseuphorie, zögern Unternehmen nicht mehr, hier zu investieren.
Zu ihnen gehört auch die Zürcher Privatbank Julius Bär, die im April ein Büro eröffnete. Drei nordirische Angestellte arbeiten hier, ihre Vorgesetzten sitzen in London, wo die Bank ihren internationalen Sitz hat.
«Das ist ein Zeichen für unser Engagement in Nordirland. Auch wenn der Brexit ein Klima der Unsicherheit geschaffen hat: Wir entwickeln uns, unter Berücksichtigung der lokalen Besonderheiten», sagt ein Bankensprecher gegenüber swissinfo.ch und bestätigt, dass Julius Bär bisher nicht übermässig vom Brexit betroffen war.
Die Bank habe ihren Personalbestand nicht reduzieren müssen. Neben Belfast hat Julius Bär kürzlich Tochtergesellschaften im schottischen Edinburgh und in den englischen Städten Manchester und Leeds eröffnet.
Der Schweizer Botschafter in London, Alexandre Fasel, war im vergangenen Oktober zu einer von Julius Bär organisierten Veranstaltung in die nordirische Hauptstadt eingeladen. Fasel habe damals von sich abzeichnenden «endlosen Verhandlungen» zwischen London und Brüssel gesprochen, erinnert sich Ryan McAleer, Wirtschaftsjournalist beim «Belfast Telegraph».
«Sie werden sich immer an das anpassen müssen, was die Europäische Union tut», sagte der Schweizer Diplomat. Und er sagte den Nordiren für die nächste Generation einen EU-Gegner-Anteil von 80% voraus – angesichts des geringen Interesses an dem Thema in der Schweiz 27 Jahre nach dem Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR).
Neue Spannungen in Derry
Zwar erholt sich Nordirland wirtschaftlich. Doch immer noch leiden viele Bürger und Bürgerinnen an den Folgen des internen Konflikts. Viele können nicht normal arbeiten und erhalten staatliche Unterstützung, wie McAleer sagt.
Kein Tag vergeht, ohne dass die Vergangenheit wieder auftaucht. Ressentiments zwischen den Protagonisten halten sich hartnäckig.
Heute – drei Jahre nach einem klaren Nein (56%) zum Brexit – gehen die Nordiren erneut an die Urne. Viele in Belfast sind besorgt über die erneuten Spannungen in Derry. Vor einem Monat wurde dort eine junge Journalistin erschossen. Sie berichtete über Unruhen in der symbolträchtigen Stadt. Es war in Derry in der Duke Street, wo der Konflikt 1968 begann. Der Konflikt in Nordirland forderte 3700 Menschenleben und 47’500 Verletzte. Etwa 16’000 Bomben wurden platziert.
Wegen der Verzögerungen mit dem Brexit und der wieder aufgetretenen Grenzfrage zwischen den beiden irischen Staaten, wird das Ergebnis der Europawahlen heute Freitag sowohl in London als auch in Brüssel mit grosser Aufmerksamkeit verfolgt.
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Anhaltende Feindseligkeiten
«Die Gewalt von Seiten kleiner nationalistischer Gruppierungen hat nie aufgehört. Sie sind gegen ein Friedensabkommen», sagt Journalist McAleer. «Die Jungen von Derry werden von älteren Aktivisten indoktriniert. Die Rückkehr zu einer Grenze könnte zu einem neuen Ausbruch des Konflikts führen.» Weder Dublin noch Belfast wollen die Wiederherstellung einer harten Grenze über die 300 Kilometer, die ihre beiden Länder trennen.
Permanente Angst
Heute Freitag entscheiden die Bürger und Bürgerinnen, welche drei Personen im Strassburger Parlament ihre Interessen vertreten sollen. Begleitet werden die Wahlen von der ungelösten Frage des Brexits. Im gegenwärtigen Kontext ist die Wiedervereinigung der beiden irischen Staaten – um den Folgen einer Scheidung Brüssels und Londons entgegenzuwirken – nur noch Wunschdenken.
Die Bevölkerung von Belfast, die 2016 in einigen Bezirken mit fast 80% gegen den Brexit stimmte, sieht eine Distanzierung von Brüssel als grosse Bedrohung für die lokale Wirtschaft. «Wir haben viel mehr zu verlieren als die Briten», schreiben Kolumnisten. Der tägliche Handel in Grenzgebieten könnte stark darunter leiden.
Zwei Probleme
«Seit 1998 und seit der Entmilitarisierung der Grenze haben wir uns zunehmend als irisch definiert», sagt McAleer. Er glaubt, dass wenn morgen eine neue Abstimmung über den Brexit stattfände, sich noch mehr nordirische Bürger dagegen aussprechen würden. Aber das Land steckt seit zwei Jahren in einer politischen Krise.
«Die Europawahlen, die bisher von geringem Interesse waren, erhalten in diesem Jahr eine besondere Bedeutung. Es ist, als würden wir ein zweites Mal über den Brexit abstimmen», sagt McAleer.
(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)
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