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Expertin warnt: Testoffensive kein Allerheilmittel gegen Corona-Pandemie

Eckerle
Isabella Eckerle zählt zu den profiliertesten Kritikerinnen der Schweizer Regierung und Behörden im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Keystone / Anthony Anex

Während die Schweiz eine grosse Testoffensive startet, um eine dritte Covid-19-Welle zu bekämpfen, warnt die Virologin Isabella Eckerle von den Genfer Universitätskliniken davor, grossflächige Tests als Allerwelts-Heilmittel zu sehen.

Isabella Eckerle, die in Genf das Zentrum für neu auftretende Viruskrankheiten leitet (Geneva Centre for Emerging Viral Diseases), hat sich während der gesamten Pandemie öffentlich für breite Covid-Tests stark gemacht. Dabei ging sie auch hart ins Gericht mit der Politik der Schweizer Regierung im Kampf gegen die Pandemie.

So hatte Eckerle im letzten August gewarnt, dass das Land auf eine zweite Welle «nicht gut vorbereitet» sei. Auch gebe es «keine Strategie» und «inkonsistente Tests», kritisierte sie.

Damals drängte das Bundesamt für Gesundheit (BAG), die nationale Gesundheitsbehörde, unter Berufung auf die Versorgungslage nicht auf flächendeckende, systematische Tests in der ganzen Schweiz. Kostenlose Tests waren in der Regel nur für Menschen verfügbar, die Krankheits-Symptome aufwiesen oder die dem Virus ausgesetzt waren.

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Doch jetzt – im Warten auf grosse Impfstofflieferungen – hat der Bundesrat seine Strategie geändert: Ab Mitte März sollen sich auch Menschen ohne Symptome testen lassen können – regelmässig und kostenlos. Allen sollen pro Monat fünf kostenlose Selbsttests zur Verfügung stehen. Noch sind diese aber nicht zugelassen.


Die Virologin Isabella Eckerle ist Direktorin des Geneva Centre for Emerging Viral Disease, an dem die Universitätskliniken Genf und die medizinische Fakultät der Universität Genf beteiligt sind. 
Eckerle wurde in Deutschland geboren und studierte Medizin an der Universität Heidelberg. Nach einer Forschungsreise in Afrika spezialisierte sie sich auf Infektionskrankheiten. An der Universität Bonn arbeitete sie mit dem bekannten deutschen Virologen Christian Drosten zusammen.
Sie ist auf Viren spezialisiert, die von Tieren auf Menschen übertragen werden. Seit zehn Jahren erforscht sie Coronaviren. Ihr Labor leitete die Entwicklung und Validierung der Diagnostik für SARS-CoV-2 – so die wissenschaftliche Bezeichnung des Coronavirus –  in der Schweiz. Ein weiterer Fokus ihrer Arbeit lag auch auf der Rolle von Kindern bei der Verbreitung des Virus.

swissinfo.ch: Warum hat es so lange gedauert, bis die Schweiz eine aggressivere Teststrategie verfolgt?

Isabella Eckerle: Ich habe den Eindruck, dass es in der Schweiz in vielen Bereichen die Tendenz gab, die Pandemie herunterzuspielen. Das hat sich bis zu einem gewissen Grad auf das Testen ausgewirkt. Wenn vieles offen ist, sind die Menschen weniger motiviert, sich testen zu lassen. Denn sie wollen die Konsequenzen nicht tragen, beispielsweise die Quarantäne.

Wir sehen das in unserer Abteilung im Krankenhaus. In der ersten Welle gab es so viele Tests, dass wir sie kaum bewältigen konnten. Die Rate an positiven Tests ist in der Schweiz immer noch hoch, aber es kommen nicht mehr Personen in die Testzentren. Sie sind des Testens überdrüssig geworden.

Insgesamt aber hat sich die Haltung der Schweiz in Sachen Tests im Laufe der Pandemie stark verändert. Die Kriterien haben sich geändert und sind von Kanton zu Kanton unterschiedlich, was sehr schwierig war.

Es gab aber auch einige Dinge, welche die Schweiz wirklich gut gemacht hat. So handelte sie rasch, um schnelle Antigentests bereits im letzten Jahr verfügbar zu machen.

Wie gross war das Problem bei der Versorgung mit Tests?

Am Anfang waren wir nicht in der Lage, Tausende von PCR-Tests pro Tag durchzuführen. Unsere Kapazitäten reichten nur für ein paar Hundert. Als mehrere Hersteller automatisierte Systeme auf den Markt brachten, half das, aber wir hatten immer noch nicht genug Reagenzien (chemische Substanzen, die eine Reaktion anzeigt, die Red.). Das Problem wurde im Laufe des letzten Sommers aber gelöst.

Jetzt sind viele Tests auf dem Markt, so dass die Versorgung kein Problem mehr ist. Das wird sich mit der Einführung von Heimtests zusätzlich verbessern.

Die Schwierigkeit besteht aber nicht nur in der Verfügbarkeit der Tests, sondern auch in deren Anwendung. Diese erfordert eine Infrastruktur wie Testzentren sowie Schulungen. Es stellt sich auch die Frage, was zu tun ist, wenn die Menschen die Ergebnisse haben.

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Werden kostenlose Tests und Selbsttests dazu beitragen, dass die Schweiz die Pandemie in den Griff bekommt?

Es wird helfen, die Hemmschwelle für Tests zu senken, was gut ist. Aber wenn man kein klares Ziel hat, kann man auch die Strategie nicht darauf abstimmen. Die Gesamtziele für das Management der Pandemie müssen klar sein: Will man die Zahl der Krankenhausaufenthalte niedrig halten, oder will man die Übertragung einschränken?

«Den ‹Game-changer› gibt es nicht, nicht mal die Impfstoffe sind ein solcher.» 

Es gibt viele Bereiche, in denen mehr getestet werden sollte, zum Beispiel in Schulen und Kindertagesstätten. Wir wissen, dass es dort Infektionen gibt. Aber wenn wir keine Infektionen suchen und finden, können wir die Übertragung nicht unterbrechen.

Es gibt aber nicht die eine Lösung. Wir dachten, Schnelltests würden den Durchbruch bringen. Aber den «Game-changer» gibt es nicht, nicht mal die Impfstoffe sind ein solcher. Wir müssen alles zusammenbringen – Schutzmassnahmen, Tests, und Impfstoffe. Man kann nicht eine Massnahme gegen eine andere austauschen – man braucht sie alle.

Glauben Sie, dass Massentests für die gesamte Bevölkerung einer Region oder einer Stadt effektiv sind?

Ich habe noch keine überzeugenden Daten gesehen, die das belegen würden. Es ist eine Momentaufnahme, und man wird eine Menge Leute in die Isolation schicken, ohne damit die Übertragung auf null zu bringen.

Es macht wirklich nur Sinn, wenn man die Tests alle paar Tage wiederholen kann. Aber ich stelle die langfristige Strategie für Massentests bei Personen ohne Symptome in Frage.

Es wird diskutiert, dass im Sommer Menschen nur Zutritt zu Restaurants, Festivals oder Fussballspielen haben sollen, wenn sie einen negativen Test vorweisen können. Was halten Sie davon?

Man kann das Virus nicht wegtesten. Man muss die Ausbreitung mit Tests einschränken, aber man kann die Massnahmen zum Schutz der Gesundheit nicht durch Tests ersetzen – das wird nicht funktionieren. Man hat keinen Freipass, nur weil man einen Schnelltest gemacht hat.

Auch wenn wir viele Schnelltests haben, können wir deswegen nicht zur Normalität übergehen, denn man wird immer Menschen übersehen. Der Test ist nur eine Momentaufnahme – er kann morgen schon positiv ausfallen. Aber es ist unrealistisch, sich jeden Tag zu testen.

«Tests können nicht als Argument dazu dienen, jetzt alles zu öffnen.» 

Der Schlüssel liegt darin, das Risiko einer Ansteckung so weit wie möglich zu reduzieren. Aber Tests können nicht als Argument dazu dienen, jetzt alles zu öffnen. Die Frage ist, wie man diese Tests am effektivsten einsetzt und wie viel Risiko wir akzeptieren können. Für mich macht es Sinn, in Schulen zu testen, weil die Vorteile, die Schulen offen zu halten, klar auf der Hand liegen.

Wird ein Kind in einer Schule positiv getestet, warum nicht ein mobiles Team aufbieten, das die ganze Klasse testet? Wir wissen, dass Kinder asymptomatisch sein können, aber PCR-Tests können positive Fälle ans Licht bringen.

Sie haben lange zur Übertragung bei Kindern geforscht. Was sind die Ergebnisse?

Wir wissen, dass Kinder infiziert werden und ihrerseits das Virus übertragen. Aber wir entdecken es nicht, weil sie nicht so oft krank werden. Sie haben vielleicht keine Atemprobleme, aber sie können andere Symptome wie Müdigkeit oder Bauchschmerzen haben, die bei Kindern schwer zu erkennen sind.

In Genf zeigte der so genannte Seroprävalenztest, der den Anteil der infizierten Bevölkerung anzeigt, nach der ersten Welle, dass Kinder viel seltener infiziert waren als Erwachsene. In der zweiten Welle jedoch wurden Kinder von über sechs Jahren fast genauso häufig infiziert wie Erwachsene.

In Bezug auf die neu auftretenden Varianten zeigen Studien in Grossbritannien, dass sich viele Kinder mit dem Virus angesteckt haben. Aber das kann an der höheren Fallzahl im Allgemeinen liegen. Wir sehen in Grossbritannien auch, dass Kinder Long Covid haben können.

«Die Schweiz hat Kindern gegenüber eine ungewöhnliche Haltung.»

Die Schweiz hat Kindern gegenüber eine ungewöhnliche Haltung. Zum Beispiel tragen kleine Kinder hier keine Masken, während sie das in vielen anderen Ländern tun.

Es wurde so viel darüber diskutiert, ob Kinder Covid bekommen können oder nicht. Man würde sich aber besser auf einfache Massnahmen konzentrieren, um sie zu schützen. Etwa mit der Verkleinerung von Klassengrössen oder eben der Maske.

Was werden wir von dieser Pandemie mitnehmen?

Ich hoffe, dass wir uns darauf konzentrieren, den Ursprung der Pandemien zu erforschen, denn dies hängt mit der Zerstörung von Lebensräumen und der Nutzung von Tieren zusammen. Wir wissen, dass es da draussen viele Viren gibt, die den gleichen Weg wie das Coronavirus nehmen könnten. Der Handel mit Wildtieren, aber auch der Verlust von Lebensräumen sowie die Massentierhaltung sind Szenarien, in denen ein weiteres Spillover-Ereignis eines ursprünglichen Tiervirus wahrscheinlich wird.

Wir müssen uns auf die Prävention konzentrieren. Wir wussten, dass die Gefahr eines ähnlichen Virus wie beim ersten Sars besteht, aber es wurde wenig dagegen unternommen. Wie bei der Klimakrise wird es wahrscheinlich viele Jahrzehnte dauern, bis sich das auszahlt, aber wir müssen uns jetzt auf die Prävention konzentrieren.

In Sachen Impfstoffe aber hat es in der Medizin eine echte Revolution gegeben. Deshalb glaube ich, dass wir in Zukunft besser vorbereitet sein werden, um zu reagieren.

«Auf gesellschaftlicher Ebene hat die Pandemie die bereits bestehenden Ungleichheiten noch verschärft.»

Auf gesellschaftlicher Ebene hat die Pandemie die bereits bestehenden Ungleichheiten noch verschärft. Menschen mit weniger gut bezahlten Jobs haben ein höheres Krankheitsrisiko. Wir brauchen Dinge wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf globaler Ebene sowie soziale Unterstützung.

Was werden Sie als erstes tun, wenn das alles vorbei sein wird?

Ich werde meine Familie in Deutschland besuchen. Ich vermisse das häufige Zusammensein mit Freunden und Familie sehr.

(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)

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