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EZB-Anleihenprogramm überzeugt nicht alle

Draghi am 6. September an der Konferenz in Frankfurt. Reuters

Die Ankündigung des europäischen Zentralbank-Präsidenten Mario Draghi, unlimitiert Staatsanleihen zu kaufen, um die Einheitswährung Euro zu retten, hat in den Schweizer Zeitungen zu unterschiedlichen Kommentaren geführt.

«Hangeln über dem Abgrund», «Der Euro driftet nach Süden», «Draghi wagt etwas – leider zu wenig», «Eine teure und riskante Massnahme», «Spiel auf Zeit» und «Ein Schweizer namens Draghi» titeln am Freitag die Schweizer Zeitungen.

Genau vor einem Jahr hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) den Euromindestkurs auf 1,20 Franken festgelegt und «damit die Kontrolle über den Wechselkurs und über die Entwicklung der Geldmenge wenigstens vorübergehend an die Europäische Zentralbank (EZB) übergeben», schreibt die Basler Zeitung.

Einige Stunden nach Draghis Auftritt stellt die BAZ «zufrieden» fest, «dass die Teilnehmer an den Finanzmärkten an sein Projekt zu glauben scheinen. Das ist gut für den Franken und gut für die Schweiz».

Vorsicht sei aber trotzdem angebracht: «Die EZB hat schon zweimal versucht, dem Zinsenjoch und der schwelenden Kreditklemme im Süden Europas Herr zu werden.» In den Kreditmärkten sei damals aber kaum etwas angekommen.

«Die Lehre daraus ist die: Jede gescheiterte Notenbankintervention zieht eine umso grössere nach sich – die entsprechenden Risiken inklusive. Deshalb sehnen die Schweiz und die SNB den Moment herbei, an dem der Wechselkurs wieder frei im Markt schwanken kann. Doch vermutlich weiss Draghi nicht einmal, dass ihm das ganze Land die Daumen drückt.»

Kein Anreiz zu Investitionen

«Wenn die Reaktion der Börsen ein Massstab ist, dann gelang der EZB gestern ein grosser Wurf», schreibt der Blick und fragt: «Ist das das Ende der Eurokrise?»

Die Antwort gibt das Blatt gleich selber: Draghi habe «leider zu wenig» gewagt: «Die tieferen Zinsen für Staatsschulden müssen mit Ausgaben- und Lohnkürzungen verdient werden. Damit entfällt für die Unternehmen jeder Anreiz, in diesen Ländern zu investieren.» Mit einem Investitionsschub sei daher nicht zu rechnen. «Was die EZB mit dem Aufkauf von Schulden gibt, nimmt ihnen die EU-Kommission mit ihren Auflagen wieder weg.»

Viel sinnvoller fände es der Blick-Kommentator, wenn die Hilfe der EZB «nicht an Spar-, sondern an Ankurbelungsprogramme geknüpft wird. Doch solche Anzeichen der Vernunft sind bisher nicht zu erkennen».

Regierungen gefordert

«Gestern hat die Institution endlich die schwere Artillerie aufgefahren, wie die amerikanische Fed», schreibt die Westschweizer Zeitung Le Temps. «Doch reicht das?» Die Ankündigung unlimitierter Anleihenkäufe sei zentral, um die Märkte von der Entschlossenheit der EZB zu überzeugen.

Doch auch damit sei das Problem der exzessiven Verschuldung der Länder noch nicht gelöst. «Jetzt, wo sie einen Stabilisatoren der Zinsen haben, bleibt den Regierungen keine Entschuldigung mehr.»

Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch die Tribune de Genève und 24 heures: «Diese Reformen, das verstehen alle unschwer, können nicht rasch umgesetzt werden. Sie hängen besonders von der politischen Agenda jedes Landes ab.»

Auffangnetz für Italien und Spanien

Langsam zeichne sich ab, wie sich die EU durch die aktuelle Eurokrise hangle, schreibt der Tages-Anzeiger. «Griechenland wird im Oktober vor der Weggabelung stehen, entweder die Bedingungen zu erfüllen oder den Euroraum zu verlassen. Gleichzeitig hat die EZB mit dem gestrigen Entscheid ein Auffangnetz ausgelegt, um Spanien und Italien im Falle eines Ausscheidens Griechenlands nicht abstürzen zu lassen.»

Daher sei Draghi die Zustimmung der Märkte gewiss. «Dass sein Entscheid zentrale Grundsätze aus den klassischen Lehrbüchern über den Haufen wirft, scheint im Moment zweitrangig.»

Auch für die Neue Zürcher Zeitung ist klar, dass der Euro mit den Interventionen vom 6. September nach Süden abdriftet: «Durch das Lancieren des neuen Aufkaufprogramms für Anleihen von Krisenstaaten hat die EZB ihr Engagement für die Erhaltung des Euro und der heutigen Euro-Zone auf eine neue, tiefer liegende Ebene gebracht. Man will die Institution nun auch für jene Länder gastfreundlicher machen, die sich bisher durch die deutsche bzw. die an der früheren Bundesbank orientierte Auffassung von Währungsstabilität eingeengt oder gar ausgeschlossen fühlten.»

Mit dem unlimitierten Spielraum wolle man «ein Heim für einen Euro schaffen, der auch zu jenen Ländern passt, die weniger sorgfältig mit öffentlichem Geld umgehen und eher ein wenig auf Kosten anderer leben als die Länder der ehemaligen D-Mark-Zone».

Zusammengefasst habe sich nun «endgültig gezeigt, dass die seinerzeit nach deutschem Muster angelegten Institutionen der EZB schwächer waren als die Personen, die in den Führungspositionen sitzen», bilanziert die NZZ. Draghi habe den Eindruck erweckt, «als wisse er, was man zurechtbiegen müsse, um die Welt in Ordnung zu bringen».

Dies alles möge der Rettung der Einheitswährung Euro dienen – «allerdings unter Preisgabe ihrer früheren Qualität».

Rettung der Eurozone

Mit dem Ankauf von Anleihen in unlimitierter Höhe wolle Draghi verhindern, dass die stark verschuldeten Länder immer höhere Zinsen bezahlen müssten, so Der Bund. «Dem EZB-Chef ist klar geworden, dass ohne neue Massnahmen die Pest droht: das Auseinanderfallen der Eurozone.»

Nun sei davon auszugehen, «dass die EZB in naher Zukunft sehr viel Geld für den Anleihenkauf ausgeben wird. Ob sie dadurch die Zinsen nach unten drücken kann, bleibt dagegen unsicher». Sollte dies nicht gelingen, blieben nur noch «wenige Möglichkeiten für schärfere Eingriffe» übrig.

«Aus momentaner Sicht scheint der Entscheid der EZB richtig – wie man ihn später beurteilen wird, bleibt offen. Heute geht es um das kurzfristige Überleben der Eurozone. Darüber hinaus gibt es keine Gewissheit, ausser derjenigen des britischen Ökonomen John Maynard Keynes: «Langfristig sind wir alle tot.»»

Die Europäische Zentralbank (EZB) will den Euro-Staaten im Kampf um den Fortbestand der Währungsunion mit Aufkäufen von Staatsanleihen zur Seite stehen.

EZB-Präsident Mario Draghi gab am 6. September in Frankfurt die Bedingungen des Programms bekannt.

Die betreffenden Staaten müssen sich der strikten Kontrolle der Euro-Rettungsfonds unterwerfen. Dann könnte die EZB unbegrenzt Anleihen mit einer Laufzeit von einem bis drei Jahren kaufen.

«Wir werden alles Nötige für den Euro unternehmen. Der Euro ist unumkehrbar», sagte Draghi.

Der Beschluss der EZB hat auch Druck von der Schweizerischen Nationalbank (SNB) genommen: Der Euro notierte nach der EZB-Ankündigung weiterhin über dem Mindestkurs von 1,20 Franken.

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