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Cyber-Expertin warnt vor Gefahren durch unregulierte soziale Medien

Marietje Schaake is the president of the Cyber Peace Institute in Geneva
Wir müssen auch in Europa auf der Hut sein davor, wie entfesselte Anhänger von Verschwörungsmythen unsere Demokratien gefährden können, sagt Cyber-Spezialistin Marietje Schaake Schaake

"Alternative Fakten" und "Realitäten" gewinnen an Boden. Insbesondere bei Gruppen aus dem rechten politischen Spektrum. Ob es sich um "QAnon", also Anhänger von ultrarechten Verschwörungsmythen, um Leugnerinnen von Covid-19 oder dem Klimawandel handelt: Viele, die behaupten, als einzige die Wahrheit zu kennen, bewegen sich ausschliesslich in ihren Bubbles auf den sozialen Medien.

Aus dieser Abkoppelung eines faktenfreien «Diskurses» – andere Meinungen werden weder gehört noch in Erwägung gezogen – ergeben sich im digitalen Zeitalter riesige Herausforderungen. Eine davon: Die Neuordnung des Kräfteverhältnisses zwischen Staaten und den globalen Giganten der Big Tech Media.

Darüber sprachen wir mit Marietje Schaake, der Präsidentin des Cyber Peace Institute in GenfExterner Link und Direktorin für internationale Politik am Cyber Policy Center der Universität Stanford.Externer Link

SWI swissinfo.ch: Seit Jahren fordern Sie mehr Regulierungen für Social-Media-Plattformen. Was sind aus Ihrer Sicht die dringendsten Reformen, die umgesetzt werden müssen?

Marietje Schaake: Es gibt ein grundlegendes Problem, das angegangen werden muss: Transparenz und Zugang zu Informationen. Für Forschende, Aufsichtsbehörden oder Journalisten ist es sehr schwer, genau zu begreifen, wie die von den sozialen Medien entwickelten Algorithmen die Informationen nutzen und filtern, welche Daten gesammelt werden und an wen sie gerichtet sind.

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Wer herrscht über die Meinungsfreiheit?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Demokratie vs. Facebook & Co.: Die grosse Debatte in den USA, Europa und der Schweiz um die Zähmung der Tech-Giganten.

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Ich denke, wir brauchen mehr unabhängige wissenschaftliche Forschung, um sowohl beabsichtigte als auch unbeabsichtigte Folgen dieser Geschäftsmodelle verstehen zu können.

Ohne Zugang zu diesen Informationen ist es sehr schwierig zu wissen, ob die Rechte der Menschen ausgehebelt werden und ob die Unternehmen überhaupt die Nutzungsbedingungen und die Einschränkungen, Standards und Verbote respektieren, die sie sich selbst gesetzt haben.

Sollten für sie ähnliche Regulierungen betreffend Transparenz und Rechenschaftspflicht gelten, wie wir sie vom Bankensystem her kennen?

Ja, das ist die richtige Denkrichtung. Auf der einen Seite müssen für die Unternehmen klare Verpflichtungen und Standards gelten. Auf der anderen Seite braucht es bei Verstössen ernsthafte Sanktionen. Wir brauchen eine Aufsicht durch Gremien und Regulierungsbehörden, die das Knowhow und die Macht haben, Untersuchen zu starten und allenfalls Massnahmen durchzusetzen.

Sie haben das Bankwesen erwähnt, aber wir können auch an ähnliche Regulierungen denken, wie sie für die Pharma-Branche, die chemischen Industrie oder die Autoindustrie gelten.

Facebook hat begonnen, Aufsichtsgremien einzusetzen. Aber wie können diese auf einer Plattform mit mehr als zwei Milliarden Userinnen und Usern Hate Speech kontrollieren? Ganz zu schweigen von all den kleineren Plattformen, die noch weniger kontrolliert werden? Wie können Demokratien schnell genug reagieren, um Gewalt im öffentlichen Raum zu verhindern?

Ich denke, dazu ist eine Kombination von Faktoren notwendig. In den meisten europäischen Ländern gibt es Ausschlüsse von der Meinungsfreiheit, auch wenn diese zum Glück sehr begrenzt sind. Es gibt Einschränkungen, wenn es um die Anstachelung zu Hass oder Gewalt geht oder um die Leugnung des Holocausts. Diese Tabus können tatsächlich helfen, Klarheit darüber zu schaffen, was legal und was illegal ist.

Schwieriger ist es, wenn das Verhalten bestimmter Menschen, denken wir an etwa an die Anhänger von Verschwörungsmythen, eine schädliche oder gar gefährliche Wirkung hat, ohne dass sie gegen das Gesetz verstossen.

Nehmen wir den Bereich der öffentlichen Gesundheit und die Bekämpfung der Covid-19-Pandemie. In diesem Fall ist es wichtig, dass es eine Aufsicht gibt sowie ein Verständnis davon, wie sich solche Theorien verbreiten und auf die Gesellschaft als Ganzes auswirken.

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Selbstkontrolle reicht hier nicht aus. Wir müssen zusätzliche Regeln festlegen, deren Einhaltung überwachen und sie nötigenfalls durchsetzen. Wir hören kaum von Menschen, die in diesem Zusammenhang verurteilt worden sind. Die Folgen von unregulierten sozialen Medien wurden nach dem Sturm auf das US-Capitol vom 6. Januar unmissverständlich deutlich. Das war ein Weckruf für viele Menschen: Online-Sprache bleibt nicht online, sie hat Auswirkungen in der realen Welt.

Es war beispiellos, dass private Unternehmen die Social-Media-Accounts eines amtierenden Präsidenten sperren. Für einige kam der Schritt zu spät, für andere war es eine Verletzung seiner Rede- und Meinungsäusserungsfreiheit. Was bedeutet das für die zukünftige Machtbalance zwischen Staat und privaten Big Tech Media?

«Sie sind in der Lage, nicht nur Massen von Konsumentinnen zu bewegen, sondern auch Massen von Wählern. Das wird immer deutlicher und diese Macht muss jetzt angegangen werden.»

Es ist interessant, dass wir jetzt diese grosse Diskussion darüber führen, ob die Sperrungen gut oder schlecht waren. Aber in beiden Fällen – ob sie die Accounts offen lassen oder sie sperren – zeigt sich eines: Diese Unternehmen haben enorme Macht. Sie haben zu viel Macht, insbesondere die riesigen Player, die Social-Media-Plattformen und Suchmaschinenbetreiber.

Sie sind in der Lage, nicht nur Massen von Konsumentinnen zu bewegen, sondern auch Massen von Wählern. Das wird immer deutlicher und diese Macht muss jetzt angegangen werden.

Online-Plattformen haben aber auch eine entscheidende Rolle gespielt während des so genannten Arabischen Frühlings. Müssen wir vielleicht akzeptieren, dass sie ein zweischneidiges Schwert sind?

Was in dieser Diskussion gerne vergessen geht: Wir sprechen nicht nur über Sprache, sondern auch über Verstärkung und die Möglichkeiten, mehr Sichtbarkeit zu kaufen und das System auszutricksen. Wir können die Frage der Meinungsfreiheit nicht isoliert betrachten, ohne zu schauen, was die Rolle bestimmter Akteure ist. Es spielt beispielsweise eine Rolle, ob jemand versucht, mit einer Verschwörungstheorie ein Publikum zu gewinnen oder ob ein Journalist über eine Verschwörungstheorie schreibt.

«Wir haben das Recht auf freie Meinungsäusserung und wir sollten dies wirklich wertschätzen. Aber es gibt auch das Recht, ohne Diskriminierung und Gewalt zu leben.» 

Es gibt auch die Netzwerke von Bots – Automaten, die vorgeben, dass Menschen interagieren, während sie in Wirklichkeit leere, programmierte Accounts sind. Oder es gibt ausländische Geheimdienste, die versuchen, in einem anderen Land eine bestimmte Botschaft auf undurchsichtige Weise in die Diskussionen einzubringen.

Wir haben das Recht auf freie Meinungsäusserung und wir sollten dies wirklich wertschätzen. Aber es gibt auch das Recht, ohne Diskriminierung und Gewalt zu leben. Und wenn die Freiheit der Meinungsäusserung, wie in Washington geschehen, mit diesen anderen Rechten oder staatlichen Pflichten kollidiert, dann muss es eine Abwägung geben. Dies wird hoffentlich auf einer demokratischen Basis geschehen und nicht auf der Basis kommerzieller Interessen.

Der Aufstand im Kapitol steht für diese Konflikte. Über 70 Millionen Menschen haben für Trump gestimmt, wobei einige an seine «alternativen Fakten» geglaubt haben. Wie kann das Vertrauen in die Regierung und die offiziellen Kanäle wiederhergestellt werden?

Wir sprechen hier von einer Huhn-Ei-Geschichte, denn wenn der Präsident der Vereinigten Staaten fälschlicherweise behauptet, dass der Wahlprozess betrügerisch war und dass sein Sieg gestohlen worden sei, dann sollten wir nicht überrascht sein, dass ein gewisser Prozentsatz der Menschen ihm glauben.

«Jetzt sehen wir Angriffe auf die Demokratie von Menschen, die eigentlich alle Freiheiten genossen haben, die Demokratie mit sich bringen.»

Ich denke, die schädlichste Auswirkung dessen, was wir in den letzten vier Jahren erlebt haben, sind Angriffe auf die Demokratie von innen. Sie haben den Arabischen Frühling erwähnt, wo junge Menschen friedlich für die Demokratie demonstrierten. Jetzt sehen wir Angriffe auf die Demokratie von Menschen, die eigentlich alle Freiheiten genossen haben, die Demokratie mit sich bringen. Ich denke, das ist eine grosse Herausforderung.

Es ist die Folge davon, dass Verschwörungen und andere Behauptungen so lange völlig ungefiltert und unkontrolliert verbreitet wurden. Hoffentlich wurden einige Amerikaner wachgerüttelt und haben jetzt gesehen, wohin Lügen und das Schüren von Hass und Gewalt tatsächlich führen.

Um das Vertrauen wiederherzustellen, braucht es eine Kombination aus verschiedenen Faktoren: eine angemessene Strafverfolgung sowie Investitionen in Medien und Journalismus, damit eine angemessene Kontrolle möglich wird.

Wir brauchen auch eine breitere Berichterstattung darüber, was die lokalen Behörden tun, sowie kartellrechtliche Massnahmen, um mehr Wettbewerb und mehr Auswahl für die Nutzerinnen und Nutzer zu schaffen. Sie sollen entscheiden können, welche Art von Plattformen sie nutzen wollen.

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Und schliesslich sollte die Transparenz, von der ich vorhin sprach, auch den Internetnutzern helfen, besser verstehen zu können, welchen kommerziellen Manövern sie seitens der Betreiber ausgesetzt sind.

Glauben Sie, dass europäische Länder inklusive der Schweiz in eine ähnliche gefährliche Lage geraten könnten? Immerhin erleben wir auch hier den organisierten Widerstand gegen Covid-19-Massnahmen, gegen die Impfung und gegen die Fakten, die den Klimawandel belegen. Dahinter stehen Gruppen von Anhängern von Verschwörungsmythen sowie esoterische sowie rechtsextremistische Kreise.

Das ist kein Risiko, das ist Realität. In allen unseren Gesellschaften verbringen die Menschen mehr Zeit im Internet, und die Zeiten sind wegen der globalen Pandemie viel unsicherer geworden. Selbst in der Schweiz kann man beobachten, wie mächtig die extreme Rechte geworden ist. Wir alle sollten deshalb sehr wachsam sein. Es wäre naiv, nur auf die andere Seite des Ozeans zu schauen und zu meinen, dass dies ein amerikanisches Problem ist.

Eine hitzige öffentliche Debatte ist kein Problem. Aber wenn es zu einer starken Polarisierung kommt, die in Hassbotschaften und der Entmenschlichung der Opponenten mit anderen Meinungen gipfelt, dann wächst die Gefahr der Eskalation.

Besorgniserregend ist aber auch der Missbrauch dieser Plattformen durch autoritäre oder diktatorische Regierungen. Einige solche haben soziale Medien benützt, um Bürger zu identifizieren und zu verhaften. So geschehen etwa in Bahrain während des Arabischen Frühlings. Wie können Unternehmen und Demokratien dieses Dilemma lösen?

Es hat sich immer wieder gezeigt, dass Regierungen diese Plattformen nutzen, um selbst Propaganda zu betreiben. So etwa die iranische Führung. Aber es gibt auch die grosse Herausforderung, dass sie in repressiven Regimes Menschen die Möglichkeit geben, ihre Meinung zu äussern.

Die Meinungsäusserungsfreiheit ist eine Sache, aber das Problem sind die Konsequenzen, welche die Menschen danach tragen müssen. Beispielsweise die Demokratie-Aktivisten in Hongkong oder friedliche Demonstranten in Nordafrika und im Nahen Osten. Ihnen wurde ein einfacher Zugang zu diesen Social-Media-Plattformen und damit zur Öffentlichkeit gewährt.

Aber die Betreiber der Plattformen haben ihrerseits die enormen Risiken für jene Userinnen und User nicht bedacht, die dort frei ihre Meinung sagen oder eine Demonstration oder eine Versammlung organisieren. Mit anderen Worten: Der Kontext, in dem diese Plattformen genutzt werden, muss unbedingt auch berücksichtigt werden.

Wir müssen uns echt Sorgen machen über Gesellschaften, in denen die Rechtsstaatlichkeit überhaupt nicht respektiert wird und in denen die Menschen völlig der Willkür von repressiven Behörden ausgesetzt sind.

Wie kann unter diesen Bedingungen die Demokratie geschützt werden, dass wir nicht Gefahr laufen, bei unseren gesellschaftlichen Online-Debatten im Fahrwasser Chinas zu landen?

Leider haben wir bereits einige Beispiele für Autoritarismus in Europa: Ungarn hat bereits Grundrechte eingeschränkt, ebenfalls Polen. Wir sollten nie so tun, als könnten wir uns ausruhen und unserem Regierungssystem und unserer Demokratie zufrieden zu sein. Wir müssen ständig an diesen arbeiten.

Gibt es eine internationale Zusammenarbeit, um den Tech-Sektor irgendwie zu regulieren?

Die EU arbeitet tatsächlich an einer Reihe von Regulierungsvorschlägen für digitale Dienste, wie dem Gesetz über digitale Märkte (Digital Markets Act), dem Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act) und dem Europäischen Aktionsplan für Demokratie (Democracy Action Plan). Es gibt bereits Datenschutzregelungen, die darauf abzielen, die Möglichkeiten von Social-Media-Unternehmen betreffend des Sammelns von Daten sowie politischer Werbung einzuschränken.

Die Regierung des neuen US-Präsidenten Joe Biden wird nach dem Anschlag auf das Capitol viel zu tun haben. Er hat bereits angekündigt, dass er einen Demokratie-Gipfel veranstalten will und dass Technologie-Themen ganz oben auf seiner Agenda stehen werden.

Ich denke, es ist an der Zeit, dass die demokratischen Länder in Sachen gemeinsame Standards für die Regulierung des Internets zusammenarbeiten.

Renat Kuenzi

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