«Alternative Fakten» in einer Schweizer Abstimmungskampagne
Falschinformationen tauchen im Kampf um Stimmen bei den hoch emotionalen Themen Einbürgerung und Steuerreform in der Schweiz immer wieder auf. Dabei landeten einige Aktivisten aber auf dem Bauch.
Wer sich das heiss diskutierte Plakat der laufenden Abstimmungskampagne ansieht, könnte meinen, muslimische Einwanderer seien die Hauptprofiteure des Vorschlags, Einbürgerungen für Ausländerinnen und Ausländer der dritten Generation zu erleichtern. Das nämlich scheint die Botschaft des Plakats zu sein, das von einem Gegner-Komitee lanciert wurde und eine Frau in Burka zeigt, begleitet von der Frage «Unkontrolliert einbürgern?».
Das provokative Plakat wurde weitherum kritisiert. Eine Burka habe nichts mit jenem Personenkreis zu tun, der von einer erleichterten Einbürgerung profitieren könnte, hiess es. Die erleichterte Einbürgerung kommt mit zwei weiteren umstrittenen Themen am 12. Februar zur nationalen Abstimmung.
Das Burka-Plakat ist nur eines von verschiedenen Beispielen, mit denen Schweizer Politiker ihre eigenen «alternativen Fakten» geschaffen haben – eine Wortschöpfung, die eine Sprecherin von US-Präsident Donald Trump im Streit um die Anzahl der Zuschauer bei dessen Amtseinsetzung erstmals benutzt hatte.
Eine Burka zu viel
Kaum war das Plakat aufgehängt, machten sich die Presse und Social-Media-Nutzer daran, die Fakten zu überprüfen. Sie bezogen sich auf eine aktuelle Studie im Auftrag des Staatssekretariats für MigrationExterner Link (SEM), die herausgefunden hatte, dass 58% aller Personen, die für eine erleichterte Einbürgerung in Frage kommen würden – hauptsächlich Grosskinder von Einwanderern – italienische Staatsbürger sind.
Doch die Aktivisten verteidigten ihr Vorgehen vehement. Auch wenn die Schweizerische Volkspartei (SVP) erklärte, sie sei nicht für das Plakat verantwortlich, sitzen Parteimitglieder im Komitee gegen den Bundesbeschluss zur erleichterten EinbürgerungExterner Link. Das Plakat folgt einer gut geschmierten Strategie, die mit einfachen, populistischen Kampagnenbotschaften der Partei seit den 1990er-Jahren Stimmen gebracht hat. Diese Botschaften spielen oft mit Ängsten vor künftigen Bedrohungen für die Schweizer Identität und den sozialen Zusammenhalt.
Ein SVP-Parlamentarier fasste die jüngste Botschaft bei einer Kampagnen-Veranstaltung zusammen: «Das Plakat sagt einzig, dass eines Tages die betroffenen Leute – der Grossteil davon – nicht mehr Italiener sein werden, sondern möglicherweise solche Menschen», sagte Jean-Luc Addor in einem Beitrag des französischsprachigen Westschweizer Fernsehens RTSExterner Link, während er eines der Burka-Poster in der Hand hielt.
Laut der bereits erwähnten Studie wären heute 24’655 Personen zu einer erleichterten Einbürgerung berechtigt, während Experten schätzen, dass nur ein Bruchteil davon tatsächlich die Schweizer Staatsbürgerschaft beantragen würde.
Andere bemerkten, die einzigen mehrheitlich muslimischen Länder unter den in Frage kommenden Nationalitäten seien die Türkei (9% der Berechtigten) – von der die Einwanderung im letzten Jahrzehnt in stetigem RückgangExterner Link war – und Kosovo (3,9%). In keinem dieser beiden Länder ist das Tragen einer Burka verbreitet. Sollte die Einbürgerungs-Vorlage angenommen werden, wäre die Anzahl Muslime, die eine erleichterte Einbürgerung beantragen, eher bescheiden.
Doch einige SVP-Vertreter gingen noch weiter und suggerierten, auch Dschihadisten könnten eingebürgert werden. Die Jungpartei des Kantons Schwyz publizierte diese Behauptung sogar auf einem Plakat (siehe Hauptbild).
Doch die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung oder einer anderen kriminellen Gruppe ist in der Schweiz rechtswidrig, und wer die Staatsbürgerschaft beantragt, muss die Gesetze einhalten und darf keine Gefährdung der nationalen oder internationalen Sicherheit darstellen. So bestätigte etwa das Bundesgericht letztes Jahr einen Entscheid der Behörden, den Schweizer Pass eines mutmasslichen Dschihadisten mit doppelter Staatsangehörigkeit einzuziehen.
Mit einem anderen Flyer verbreitet die SVP – die einzige grosse Partei, die gegen die erleichterte Einbürgerung kämpft – eine weitere Botschaft: dass die Schweiz mehr im Lande lebende Ausländer einbürgere als andere europäische Länder. Auf dem Flyer ist eine Grafik zu sehen, bei der unter anderen Ländern Luxemburg fehlt, das laut Zahlen von EurostatExterner Link mehr Pässe pro Einwohner als jedes andere europäische Land ausgibt.
Hintergrund
In der Schweiz steht die Ausländerfrage seit den 1960er-Jahren regelmässig im Zentrum der politischen Debatte. Dies, nachdem im Wirtschaftsboom der Nachkriegsjahre zahlreiche ausländische Arbeitskräfte ins Land eingewandert waren.
Zwischen 1970 und 2000 konnte sich das Schweizer Stimmvolk zu fünf Volksinitiativen äussern, die von Exponenten oder kleineren Partei der politischen Rechten lanciert worden waren und die Anzahl Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz beschränken wollten.
Die erste Initiative «gegen Überfremdung», die 1970 an die Urnen kam, erhielt einen Anteil von 46% Ja-Stimmen, was in ganz Europa für Aufregung sorgte. Die weiteren Initiativen erhielten jedoch lediglich zwischen 29 und 36% Zustimmung.
In den letzten 20 Jahren wurde die Ausländerdebatte hauptsächlich von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) bewirtschaftet. Das Thema hatte einen grossen Einfluss auf den spektakulären Aufstieg der Partei, die ihre Wählerbasis seit den 1990er-Jahren praktisch verdreifachen konnte.
2014 nahm das Schweizer Stimmvolk die so genannte «Masseneinwanderungs-Initiative» der SVP mit 50,3% der Stimmen an. Diese verlangt die Einführung von Kontingenten und Maximalzahlen bei der Einwanderung. Zudem ist die Partei die einzige, die sich gegen die erleichterte Einbürgerung von Ausländern der dritten Generation stellt, über die das Stimmvolk am 12. Februar abstimmen wird.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch