Stimmt die Behauptung des Bundesrats zur Fair-Food-Initiative?
Für den Bundesrat ist die Fair-Food-Initiative überflüssig. Die Schweiz produziere bereits heute die Hälfte der benötigten Lebensmittel selbst, sagte Innenminister Alain Berset. Stimmt das?
Gleich zwei Abstimmungen vom 23. September betreffen die Schweizer Landwirtschaft: Die Fair-Food-InitiativeExterner Link der Grünen Partei verlangt Lebensmittel, die strengere ökologische und soziale Mindeststandards erfüllen. Und die Initiative «Für Ernährungssouveränität» fordert unter anderem eine Versorgung mit überwiegend, also mehr als 50 Prozent, einheimischen Lebens- und FuttermittelnExterner Link.
Warum ist das Argument von Berset wichtig?
Der Bundesrat argumentiertExterner Link, die Schweiz produziere die Hälfte der benötigten Lebensmittel selbst und diese genügten bereits heute hohen Standards bei der Sicherheit, der Qualität und der Nachhaltigkeit. Den Schweizer Standard auch für importierte Lebensmittel vorzuschreiben, würde der Schweiz laut Bundesrat Probleme schaffen, weil dies mit Handelsabkommen in Konflikt geraten würde. Für die importierten Lebensmittel gebe es Transparenz, die Konsumenten könnten selber entscheiden, diese nicht zu kaufen, so BersetExterner Link.
Der Bundesrat lehnt beide Initiativen ab. Laut Innenminister Alain Berset ist die «Fair-Food-Initiative» überflüssigExterner Link: Die Schweiz produziere bereits heute rund die Hälfte ihres Bedarfs an LebensmittelnExterner Link selber. Dieses Argument könnte auch gegen die Initiative «Für Ernährungssouveränität» vorgebracht werden. Es lohnt sich daher gleich doppelt, die Richtigkeit der Behauptung des Bundesrats zu überprüfen.
Ja, aber…
Gemäss Agrarbericht 2017Externer Link des Bundesamts für Landwirtschaft lag der Selbstversorgungsgrad der Schweiz im Jahr 2015 brutto bei 59%. Der Selbstversorgungsgrad wird definiert als Verhältnis der Inlandproduktion zum inländischen Gesamtverbrauch. Werden importierte Futtermittel bei der Berechnung der inländischen Produktion berücksichtigt, so erhält man einen tieferen Wert (so genannter Selbstversorgungsgrad netto). 2015 betrug dieser 51%.
Es stimmt also: Bereits heute produziert die Schweiz über alle Produkte gesehen, gemessen am Energiegehalt, halb so viel, wie sie für die Lebensmittelversorgung, inkl. unverkaufte oder verdorbene Nahrungsmittel, benötigt.
Ein Blick auf die Statistiken zeigt jedoch grosse Unterschiede je nach Nahrungsmittel-Kategorie: Während die Schweiz seit Jahren fast 100% der tierischen Nahrungsmittel selbst produzieren kann, beträgt der Anteil bei pflanzlichen Lebensmitteln lediglich um die 40% und schwankt zudem von Jahr zu Jahr. Grund für die Schwankungen sind wetterbedingt unterschiedlich ausfallende Ernten.
Auch bei den tierischen Nahrungsmitteln relativiert sich der Selbstversorgungsgrad, wenn man die importierten Futtermittel berücksichtigt: Dann produziert die Schweiz gemäss Bundesamt für StatistikExterner Link unter 80% des Bedarfs.
Je nach ProduktExterner Link ist der Anteil der Inlandproduktion am Nahrungsmittelverbrauch sehr unterschiedlich: Bei Fleisch betrug 2016 der Anteil der einheimischen Produktion 86%, bei Fisch bloss 2%. Milch und Milchprodukte produziert die Schweiz mehr, als sie selbst verbraucht (116%). Den Bedarf an Früchten kann die Schweiz nur zu einem Viertel selbst decken, bei Eiern und Gemüse rund die Hälfte.
Zahlen geben blosses Verhältnis an
Man muss zudem wissen, dass bei der Berechnung des Selbstversorgungsgrads nicht berücksichtigt wird, wie viele der inländisch produzierten Lebensmittel tatsächlich im Inland verbraucht und wie viele exportiert und durch Importe kompensiert werden. Der Selbstversorgungsgrad gibt bloss ein theoretisches Verhältnis zwischen der Inlandproduktion zum inländischen Gesamtverbrauch an und bildet keine Realität ab.
Die Realität sieht folgendermassen aus: Die Schweiz importiert wertmässig mehr Lebensmittel als sie exportiertExterner Link. Die Lebensmittel-Importe pro Kopf gehören weltweit zu den höchsten. Gründe sind die Bevölkerungdichte sowie dieExterner Link wegen den Bergen relativ kleine landwirtschaftlich nutzbare Fläche.
Die Schweiz importiert vor allem bestimmte GrundnahrungsmittelExterner Link wie Reis, Hartweizen und Palmöl in grossen Mengen, ebenso Soja als Futtermittel. Bei schlechten Getreide- oder Kartoffelernten muss ebenfalls auf Importe zurückgegriffen werden.
Die heutige Abhängigkeit der Schweiz von Importen ist deshalb relevant, weil Bundespräsident Alain Berset mit der Wahlfreiheit der Konsumenten argumentiert: Diese könnten selbst entscheiden, ob sie ausländische Produkte mit niedrigerem ökologischen oder sozialen Standard kaufen wollten. Weil aber insbesondere manche Grundnahrungsmittel (Reis und Hartweizen) in grossen Mengen importiert werden, können Konsumenten nicht immer auf Schweizer Produkte ausweichen.
Zudem sind heutzutage viele Fertigprodukte hochverarbeitet und enthalten eine lange Liste von Zutaten – manche davon sind zwingend importiert. Es gibt nämlich Produkte, welche die Schweiz aus klimatischen Gründen nicht selbst herstellen kann, beispielsweise Palmöl, das in vielen industriell hergestellten Produkten enthalten ist.
Fazit: Bundesrat Berset hat über alle Nahrungsmittel pauschal gesehen theoretisch recht mit seiner Aussage, die Schweiz produziere die Hälfte der benötigten Lebensmittel selbst. Der Selbstversorgungsgrad variiert je nach Lebensmittel aber erheblich. Und die Zahl gibt bloss ein theoretisches Verhältnis an, nicht die realen Wege von der Produktion zum Verbrauch.
Selbstversorgung
AgroscopeExterner Link (das Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung) hat Berechnungen angestellt, wie sich die Situation darstellen würde, wenn die Schweiz weder exportieren noch importieren könnte. Die StudieExterner Link kam zum Schluss, dass sich die Schweiz im Notfall ganz selbst versorgen könnte: Die landwirtschaftlichen Flächen der Schweiz könnten die Bevölkerung mit bis zu 2340 kcal (9790 KJ) pro Einwohner versorgen (die empfohlene tägliche Energiezufuhr beträgt 7500-10500 KJ). Doch die Landwirtschaft müsste umorganisiert werden, und die Schweizer und Schweizerinnen müssten den Gürtel enger schnallen sowie ihre Ernährung umstellen. Schweine- und Geflügelfleisch sowie Eier kämen kaum noch auf den Tisch, dafür umso mehr Backwaren und Kartoffeln.
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