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Mikrosteuer: Ein weiterer Anlauf für eine umstrittene Idee

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Wertschriftenhandel in Zürich: Sollte er mehr zu den öffentlichen Finanzen beitragen? Keystone / Martin Ruetschi

Eine Volksinitiative in der Schweiz lässt eine alte Idee wiederaufleben: die Besteuerung von Finanztransaktionen. Aber kann die "Mikrosteuer" je über den Status einer blossen Idee hinauskommen?

Seit die Idee, Währungsspekulationen zu besteuern, in den 1970er-Jahren vom Ökonomen James Tobin aufs Tapet gebracht wurde, ist die «Tobin-Steuer» zu einem symbolhaften Schlachtruf für verschiedene Bewegungen geworden. Nur selten jedoch wurde aus der Forderung Realität. 

Schweden führte die Steuer in den 1980er-Jahren als kurzlebiges Experiment ein. Nach der Finanzkrise in Asien und der globalen Finanzkrise ab 2007 tauchte die Idee wieder auf. Frankreich und Italien erheben deshalb seit einigen Jahren eine Steuer auf den Hochfrequenzhandel; die Schweiz kennt eine Transfersteuer (Umsatzabgabe) bei Transaktionen, an denen ein Schweizer Effektenhändler als Vertragspartei oder Vermittler beteiligt ist.

Auf Ebene der Europäischen Union wurde die Idee vor zehn Jahren wieder ins Spiel gebracht, und sie ist bis heute nicht verschwunden: Das jüngste siebenjährige EU-Budget, ein 1,8 Billionen Euro schweres Paket (1,94 Bio. Schweizer Franken), das letzten Monat beschlossen wurde, erwähnt eine Steuer für Finanztransaktionen als Teil einer «Roadmap» für neue Finanzierungsquellen.

Die Idee «lebt» allerdings nur zaghaft weiter: Wie der Analyst Nicolas Véron 2015 gegenüber der Financial Times sagte, sei der EU-Steuerplan immer eine «Zombie-Politik» gewesen. «Sie wird weder wirklich lebendig, noch stirbt sie. Seit mehreren Jahren wird darüber diskutiert und die Idee könnte noch viele Jahre lang untot bleiben.»

Der Fall Schweiz

In der Schweiz versucht nun eine Gruppe, den europäischen «Zombie» in einer neuen Form für das digitale Zeitalter wieder auferstehen zu lassen – in einer zugleich begrenzten (nur ein Land betreffend) und umfangreicheren Form (ein radikaler Umbau des Steuersystems).

Die «Mikrosteuer»-VolksinitiativeExterner Link will eine Abgabe auf den bargeldlosen Zahlungsverkehr einführen – sei es der Kauf eines Kaffees mit einer Debitkarte, die Bezahlung des Gehalts eines Angestellten oder der Handel von Milliarden von Franken an den Finanzmärkten.

Falls die Initiative angenommen und der Vorschlag umgesetzt wird, sollen im ersten Jahr alle Transaktionen mit 0,005% besteuert werden. Später soll der Steuersatz so angepasst werden, «dass die Mehrwertsteuer, die direkte Bundessteuer und die Stempelsteuer reduziert und so bald wie möglich aufgehoben werden können».

Maximal sollen 0,5% belastet werden. Die direkte Bundessteuer, die Einkommenssteuer auf Bundesebene, macht in der Schweiz nur einen kleinen Anteil des Betrags aus, den die Steuerzahlenden jedes Jahr zahlen; der Grossteil der Einkommenssteuer wird von den Kantonen eingenommen.

In ihren Grundprinzipien unterscheidet sich die Initiative deutlich von dem, was auf EU-Ebene diskutiert wird; dort konzentriert man sich auf die Besteuerung von Finanztransaktionen rund um Aktienkäufe. Sie unterscheidet sich auch klar von der ursprünglichen Tobin-Steuer, die sich auf Währungsspekulationen konzentrierte, wie Marc ChesneyExterner Link sagt, der Direktor des Instituts für Banken und Finanzwirtschaft an der Universität Zürich.

Marc Chesney
Marc Chesney ist Professor an der Universität Zürich und leitet das Departement für Banken und Finanzwirtschaft. Keystone / Ennio Leanza

Der Finanzprofessor ist einer der Initianten der Volksinitiative. Dem Komitee gehören Personen aus verschiedensten  Bereichen wie Finanzwesen, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Medien an. Die Initiative ist nicht mit einer politischen Partei verbunden.

Chesney ist der Ansicht, auf europäischer Ebene gehe es beim Lärm um die Finanztransaktionssteuer vor allem um «Kommunikation». Motivation für die Schweizer Initiative seien Effizienz und Fortschritt, sagt Chesney. Anders als anderswo gehe es nicht darum, eine neue Steuer einzuführen, sondern darum, drei Steuern loszuwerden und das ganze Steuersystem für das digitale Zeitalter zu aktualisieren.

Die Initianten schätzen, dass die Steuer dem Schweizer Fiskus mehr als 100 Milliarden Franken pro Jahr einbringen würde (genug, um die drei anderen Steuern zu ersetzen). Und eine vierköpfige Schweizer Familie mit einem Jahreseinkommen von 100’000 Franken könnte pro Jahr etwa 4500 Franken einsparen.

Was Handel und Spekulation anbelangt, zielt die Initiative darauf ab, die Exzesse eines Sektors einzudämmen, der überproportional gewachsen ist und massive Volumina handelt, die nichts mit der «realen» Wirtschaft zu tun haben, wie Chesney letztes Jahr gegenüber SWI swissinfo.ch erklärt hatte.

Für Chesney, Autor eines Buchs über Missstände im Finanzsektor mit dem Titel «A Permanent Crisis», geht es auch um eine demokratische Frage. Die Schweiz erlaube Bürgerinitiativen und Debatten, die anderswo nicht möglich seien.

«Es ist unvorstellbar, dass in sogenannt demokratischen Ländern wesentliche Themen – seien sie politischer, energetischer, sozialer, wirtschaftlicher oder finanzieller Natur – nicht demokratisch angegangen werden können und am Ende nur der Entscheid einer Regierung steht», schreibt er.

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Kann das funktionieren?

Der Initiative steht ein harter Kampf bevor. So hat zum Beispiel Jean-Pierre Ghelfi, ein ehemaliger Vizepräsident der Eidgenössischen Bankenkommission, geschriebenExterner Link, dass die Mikrosteuer nichts dazu beitragen würde, künftige Rettungsaktionen für Grossbanken durch die Regierung zu verhindern. Er befürchtet auch, dass Finanzinstitute die Kosten der Steuer einfach an ihre Kundschaft – also die Bürgerinnen und Bürger – weitergeben würden.

Reiner EichenbergerExterner Link, Professor für Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg, sagt, die Idee sei «Unsinn» und würde weder von der Politik noch der Bevölkerung je akzeptiert werden.

«Man könnte sich für die Finanzierung der Staatsaufgaben nicht auf diese Steuer verlassen, weil sie die Hochfrequenzhändler einfach dazu bringen würde, in ein anderes Land zu ziehen oder etwas anderes zu tun», sagt er. «Es ist eine Sache, wenn man Hochfrequenztransaktionen in der Schweiz angreifen will. Es sollte aber nicht als Mittel zur Finanzierung der Regierung eingesetzt werden», fügt der Professor hinzu.

Es sei trotzdem gut, solche Ideen zu diskutieren, sagt Eichenberger. Und das Schweizer System lasse derartige Diskussionen zu. Während sich die Leute anderswo über solche Dinge ereifern würden, aber keine ernsthafte Debatte führen könnten, sagt er. In der Schweiz bedeute die Abstimmung über solch weitreichende Ideen, auch wenn sie letztlich abgelehnt würden, dass die Menschen zumindest eine «politische Bildung» erhielten.

Ein ähnlicher Fall war die Volksinitiative «Für ein bedingungsloses Grundeinkommen» aus dem Jahr 2016, die eine monatliche Zahlung von 2500 Franken an alle Bürgerinnen und Bürger vorsah. Diese Idee sei auf «denselben Unsinn» hinausgelaufen und die Zahlen seien nicht aufgegangen, sagt Eichenberger. Aber sie sei in einer schlüssigen Form präsentiert worden, und auch wenn das Stimmvolk die Idee verworfen habe, sei «es besser, über solche Dinge zu debattieren, als nur Krimis im Fernsehen zu schauen», sagt der Professor.

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Die Initiative wurde zudem nicht völlig weggefegt. Sie gewann bei der Abstimmung 2016 immerhin über 23% der Wählerstimmen – und ist immer noch nicht ganz von der Spielfläche verschwunden: In Zürich wurde kürzlich eine Initiative auf Stadtebene lanciert, die ein Pilotprojekt für ein bedingungsloses Grundeinkommen fordert.

Katalysator-Funktion

Eine andere ähnliche (ebenfalls abgelehnte) Idee war die Vollgeld-Initiative von 2018, die eine grössere Rolle für die Schweizer Nationalbank bei der Kreditvergabe vorgeschlagen hatte.

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Anja Heidelberger, eine Forscherin der politischen Informationsplattform «Année Politique Suisse»Externer Link, sagt, das Beispiel Vollgeld sei vielleicht am direktesten mit der Mikrosteuer vergleichbar. Beide seien «sehr technische» und nicht emotionale Ideen und beide zielten auf eine «revolutionäre Überholung» des Systems ab.

Den Leuten hinter solch revolutionären Initiativen geht es laut Heidelberger nicht nur um den Sieg. Mindestens ebenso wichtig sei aus demokratietheoretischer Sicht, Ideen auf den Tisch zu bringen, die sonst nicht auf den Tisch kämen.

Während einige Initiativen als Druckventil dienen (z.B. bei hitzigen Themen wie der Einwanderung) und andere als politisches Werkzeug (z. B. um das Profil einer Partei zu stärken), funktioniert eine andere Kategorie eher als Katalysator, um eine längerfristige Debatte zu entfachen, wie Heidelberger weiter sagt. Die «Mikrosteuer-Initiative» könnte eine solche sein.

Wie Eichenberger sagt auch Heidelberger, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in der Regel zu sehr mit dem Status quo liebäugelten, um grosse Umwälzungen zu akzeptieren. Aber weitreichende Vorstösse trügen dazu bei, «die Diskussion zu erweitern».

Ob das bei der Mikrosteuer der Fall sein wird, hängt auch davon ab, ob die Initiative überhaupt zustande kommen wird. Laut Chesney hat die Kampagne bis heute 40’000 Unterschriften gesammelt. Die Initiantinnen und Initianten haben noch etwa ein Jahr Zeit, um die nötigten 100’000 Unterschriften zu erreichen.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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