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Flüchtlingsdrama vor Lampedusa als «unsere Schande»

Geborgene Opfer des jüngsten Einwanderer-Dramas vor Lampedusa. Es wird befürchtet, dass Zahl von 111 Toten noch steigen dürfte. Keystone

Die Flüchtlingstragödie vor der sizilianischen Insel Lampedusa, bei der am Donnerstag mindestens 111 afrikanische Migranten ertranken, hat auch in der Schweizer Presse grosse Betroffenheit ausgelöst.

«Neues Drama der Migration», titelt La Liberté aus Freiburg. «Das Drama zu viel», so die Tribune de Genève . «Ein europäisches Drama», beklagt Der Landbote aus Winterthur.

«Es ist unsere Schande», titeln Der Bund und der Tages-Anzeiger. «Es sind unsere Toten. Entsetzen und Empörung über die Tragödie sind scheinheilig.»

Und weiter: «Lampedusa ist dort, wo die Erste und die Dritte Welt aufeinanderstossen.» Die Insel sei das Symbol einer Politik, für die in Europa ein breiter Konsens bestehe. «Wir wollen die Migranten und Flüchtlinge nicht, die aus südlicheren Teilen Afrikas in Europa Arbeit, ein besseres Leben oder Schutz vor Verfolgung suchen.»

Je stärker aber Europa zur Festung ausgebaut werde, desto höher werde der Preis, desto riskanter die Überfahrt und desto mehr Tote werden zu beklagen sein, so die Zeitungen.

Die jüngste Tragödie von Lampedusa zeigt einmal mehr die mangelnde Zusammenarbeit der Staaten der Europäischen Union (EU).

Gemäss der Behörde für internationale Migration sind im Mittelmeer in den letzten 20 Jahren 25’000 Flüchtlinge gestorben. 2011 waren es 2000 Opfer, 1700 im letzten Jahr.

Italien, aber auch Griechenland, Malta und Zypern geraten zunehmend unter Migrationsdruck, beklagen sich aber bei den nördlichen EU-Ländern über mangelnde Solidarität.

Schuld sei Schengen/Dublin. Gemäss dem Abkommen von 2003 ist jenes Land für die Asylverfahren zuständig, in dem ein Migrant als erstes einreist.

Die nördlichen EU-Länder sind nicht bereit, Schengen/Dublin anzupassen.

Die Europäische Kommission hat aber das Programm «Eurosur» lanciert, mit dem die Koordination der Mitgliedstaaten ab Dezember verbessert werden soll. Die Kosten für 2014 bis 2020 betragen 244 Mio. Euro.

Massengrab Mittelmeer

«Das Mittelmeer ist schon lange das grösste Massengrab vor der Tür Europas», so die Berner Zeitung. Sie findet «befremdlich», dass im Mittelmeer, notabene eine der meistbefahrenen und -überwachten Schifffahrtsstrassen der Welt, «ein überladenes Flüchtlingsschiff bis zur Küste Lampedusas treiben kann, ohne zuvor vom Radar der Grenzschutzbehörden wie der Berufsschifffahrt erfasst zu werden».

Auch Die Südostschweiz schreibt vom «Massengrab Mittelmeer». Flüchtlingen in Not werde nicht durchweg geholfen, wie es Pflicht wäre. «Weil Kapitäne keine Scherereien wollen. Und weil die Küstenwachen ihre Aufgabe eher im Grenzschutz als in der Rettung von Menschen sehen.»

«Verdrängte Tragödie», titelt die Neue Luzerner Zeitung. «Das jüngste Drama erinnert daran, dass Europa bis heute keine Antwort auf die nicht kleiner werdenden Flüchtlingsströme hat. Und vor allem mit Abschotten, Nichtstun und Wegsehen reagiert. Auch weil das Thema Einwanderung allerorten ein heisses Eisen ist, an dem sich niemand die Finger verbrennen will.»

Humanitären Korridor öffnen

«Die einzige Macht der Migranten ist ihre Zahl», schreibt Le Corriere del Ticino. «Kommen nur wenige auf einmal um, nimmt Europa keine oder nur kaum Notiz davon, so beschäftigt ist es mit der Wirtschaftskrise.»

Der Corriere weist aber auch auf die kriminellen Organisationen der Schlepper hin, die den Migranten Europa als gelobte Erde versprechen würden.

«Man könnte eine aktivere, schärfere Politik gegen die Menschenhändler erwarten und eine offenere gegenüber jenen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen», fordert Pier Giacomo Grampa, der Bischof von Lugano im Giornale del Popolo. «Wir dürfen nicht resignieren, wir dürfen uns nicht daran gewöhnen.»

Er regt die Öffnung eines humanitären Korridors an und ruft dazu auf, Italien in der Frage der Einwanderung nicht alleine zu lassen.

Angesichts des Flüchtlingsdramas vor der italienischen Insel Lampedusa hat Staatspräsident Giorgio Napolitano eine Überprüfung der restriktiven Aufnahmepolitik angekündigt.

Innenminister Angelino Alfano, der sich auf Lampedusa selbst ein Bild von der Lage machte, bezeichnete den Tod der Migranten als «ungeheure Katastrophe». Für Freitag wurde in Italien Staatstrauer angeordnet.

«Beten wir für die Opfer des tragischen Schiffbruchs vor Lampedusa», schrieb Papst Franziskus auf Twitter. Die erneute Flüchtlingstragödie sei eine Schande.

Die Staatsanwaltschaft eröffnete ein Ermittlungs-Verfahren gegen die mutmasslichen Schleuser.

Mit Bestürzung hat die EU-Kommission auf das tödliche Drama reagiert. «Es ist wirklich eine Tragödie, ganz besonders, weil auch Kinder betroffen sind», erklärte EU-Regionalkommissar Johannes Hahn in Brüssel.

Der UNO-Sonderberichterstatter für die Rechte von Migranten, François Crépeau, kritisierte die europäische Einwanderungspolitik. «Diese Toten hätten vermieden werden können», sagte Crépeau am Donnerstag vor der UNO-Vollversammlung in New York.

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