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Erste 40 Flüchtlinge aus libyschen Lagern in der Schweiz gelandet

Afrikanische Männer in einem Gefangenenlager in Libyen
Viele Migranten und Flüchtlinge, die es bis nach Libyen geschafft haben, landen in Gefangenschaft. Keystone

Es sind hauptsächlich Frauen und Kinder: Eine erste Gruppe besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge aus Internierungslagern in Libyen ist am Mittwoch in der Schweiz eingetroffen. 

Die Aufnahme ist Teil eines UNHCR-Notfallplans. Ein Blick auf die internationale Antwort auf die Migrations-Krise in Libyen. Ende letzten Jahres hatte ein Bericht des US-Nachrichtensenders CNN über afrikanische Flüchtlinge, die auf libyschen Sklavenmärkten verkauft worden seien, weltweit für Empörung gesorgt. In der Folge intensivierten die Europäische Union (EU) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Evakuierung von Migranten aus Libyen.

Ebenfalls im Dezember kündigte die Schweiz an, sich am Notfallplan des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) zu beteiligen, wonach Tausende aus Internierungslagern in Libyen evakuiert werden sollen.

Justizministerin Simonetta Sommaruga sagte, die Schweiz werde 80 schutzbedürftigte Flüchtlinge aufnehmen. Sie beschrieb dies als «humanitäre Sofortmassnahme», die durch die katastrophale Lage in Libyen gerechtfertigt sei.

Nun ist am Mittwoch, 4. April ein erstes Flugzeug mit 40 Flüchtlingen in der Schweiz gelandet. Es sind laut IOM 34 Erwachsene, vier Kinder und zwei Babys. Gemäss dem Staatssekretariat für Migration (SEM) sind die Mehrzahl unter ihnen alleinstehende, schutzbedürftige Frauen, die aus Libyen nach Niger evakuiert worden sind. 

Das SEM sagte gegenüber swissinfo.ch, der Bund habe mit den Kantonen verhandelt, um die Flüchtlinge unterzubringen. Gemäss Schweizer Praxis werden die Flüchtlinge nur ein paar Tage lang in der Obhut der Bundesbehörden bleiben, bevor sie gemäss vereinbarten Quoten auf die Kantone verteilt werden.

Andere europäische Länder wollen im Rahmen der UNHCR-Operation ebenfalls Flüchtlinge aufnehmen. Vincent Cochetel, UNHCR-Sonderbeauftragter für die Lage im Mittelmeerraum, sagte gegenüber swissinfo.ch, dass bisher 1300 Personen evakuiert worden seien. Davon seien 312 nach Italien und einige wenige nach Rumänien gebracht worden. Die Mehrheit der Evakuierten ist zurzeit im Niger. Von dort aus soll ihre Umsiedlung in die Wege geleitet werden.

Folter und Missbrauch

In den letzten Jahren haben hunderttausende Flüchtlinge und Migranten die Reise durch Afrika nach Libyen auf sich genommen. Einige mit dem Wunsch, in Libyen zu bleiben, die meisten aber, um nach Europa zu gelangen. «Fast eine halbe Million Menschen haben in den letzten drei Jahren die Überfahrt gemacht; mehr als 10’000 haben dabei das Leben verloren», heisst es in einem Bericht von Amnesty InternationalExterner Link (AI) vom letzten Dezember. «Eine weitere halbe Million, vielleicht mehr, sind derzeit in Libyen gestrandet.»

Von jenen, die in Libyen festsitzen, wird geschätzt, dass Ende letzten Jahres 20’000 Flüchtlinge und Migranten in Internierungslagern der Abteilung DCIM des libyschen Innenministeriums festgehalten wurden. Diese wurde geschaffen, um die Migrationsströme nach Libyen zu bewältigen.

Laut dem Amnesty-Bericht werden viele Tausend in inoffiziellen Lagern gefangen gehalten, die von Milizen und kriminellen Banden geführt werden. In beiden Fällen würden «Menschen rechtswidrig unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und Folter sowie anderen brutalen, unmenschlichen und entwürdigenden Behandlungen oder Strafen unterworfen, darunter auch sexueller Gewalt». AI beschuldigte damals die europäischen Regierungen der Komplizenschaft.

Laut IOM konnten seit der Intensivierung der gemeinsamen Operation Ende letzten Jahres 17’000 Menschen die Internierungslager in Libyen verlassen. Davon seien 11’000 freiwillig in ihre Heimatländer zurückgekehrt. In offiziellen Internierungslagern hielten sich nur noch 3500 Personen auf. Zweifelsohne werden noch viele von Milizen festgehalten, sagt Florence Kim, Sprecherin der IOM für West- und Zentralafrika. Zu diesen Lagern erhalte man aber kaum Zugang.

Flüchtlinge und Migranten

In den libyschen Internierungslagern kommt es darauf an, ob man als Wirtschaftsmigrant oder als Flüchtling eingestuft wird. Die Überprüfung der Flüchtlinge wird vom UNHCR durchgeführt, während die IOM für die freiwillige Rückkehr von Migranten zuständig ist.

Doch welche Kriterien machen einen zum schutzbedürftigen Flüchtling? Laut Vincent Cochetel sind es «Folteropfer, Menschen mit medizinischen Problemen, alleinstehende Frauen, unbegleitete Minderjährige und Menschen mit Behinderungen».

«Aber heute sind fast alle in Libyen schutzbedürftig, also ist eine Gefährdung alleine kein Kriterium mehr. Wir müssen feststellen, ob diese Leute Flüchtlinge oder Migranten sind. Flüchtlinge sollten nicht zur Rückkehr gezwungen werden, weil sie sonst Verfolgung oder Risiken ausgesetzt sind», ergänzt er.

Doch wie stellt die IOM sicher, dass ihr Rückführungsprogramm wirklich auf freiwilliger Basis stattfindet? Kim erklärt, ihre Organisation sorge dafür, dass die Menschen «wissen, dass sie eine Wahl haben, dass kein psychologischer Druck auf sie ausgeübt wird. Doch gleichzeitig wissen wir auch, dass es eine der einzigen lebensrettenden Optionen ist, die sie haben».

Unterschiedliche Profile

Etwa 80% der Zurückgekehrten seien in Libyen festgehalten worden, so Kim. Der Grossteil jener, die zurückkehren würden, stamme aus westafrikanischen Ländern wie Nigeria, Gambia, Guinea und der Elfenbeinküste. Ihr spezifisches Profil hänge vom jeweiligen Land ab.

«Aus der Elfenbeinküste zum Beispiel sind 70 bis 80% Männer zwischen 18 und 30 Jahre alt und meistens gebildet», sagt die IOM-Sprecherin gegenüber swissinfo.ch. «Aus Nigeria hingegen kommen viel mehr Frauen als aus anderen Herkunftsländern, und unter diesen Frauen sind 80 bis 90% Opfer von Menschenhandel.» Zudem gebe es viele unbegleitete Minderjährige.

Ein innovativer Aspekt des freiwilligen Rückkehrprogramms ist die Unterstützung bei der Wiedereingliederung. Dabei arbeitet die IOM nicht nur mit der betroffenen Person, sondern auch mit der Herkunftsgemeinde zusammen. «Wenn sie Rückkehrende sind, lassen wir sie nicht allein mit dem Rückkehrprojekt, wir versuchen, sie mit anderen Menschen zu vernetzen», erklärt Kim.

«Wenn wir beispielsweise jemand helfen, eine Hühnerfarm aufzubauen, wird man diese vielleicht zusammen mit anderen Rückkehrern führen. Wir versuchen auch, potenzielle Migranten einzubeziehen.» So kann laut Kim auch verhindert werden, dass es in der Heimatgemeinde zu Spannungen kommt.

In die Schweiz kommen

Die Schweiz wird noch weitere Flüchtlinge aus temporären Zentren in Niger aufnehmen. Vertreter des SEM haben dort eigene Überprüfungen durchgeführt. Zudem sucht das UNHCR weiterhin nach weiteren Gastländern für Flüchtlinge.

«Wir bitten die Schweiz sowie andere europäische und aussereuropäische Länder, mehr Menschen aufzunehmen, weil wir sicherstellen müssen, dass wir so viele Menschen wie möglich aus Niger evakuieren können», sagt Cochetel vom UNHCR.

(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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