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Antisemitismus in der Schweiz

75 Jahre nach «Das Boot ist voll»

Jewish refugees in a cart in 1940
Kein Durchkommen: Jüdische Flüchtlinge, die 1940 an der Schweizer Grenze wieder umdrehen mussten. RDB

Archivdokumente zeigen, wie antisemitisch gewisse Schweizer Politiker und Behörden während des Zweiten Weltkriegs waren. Die historischen Zeugnisse erzählen aber auch von Mitgefühl der Bevölkerung für die verzweifelten Juden.

Heute vor 75 Jahren tagten die Direktoren der kantonalen Fremdenpolizei in Montreux. Auf ihrer Agenda stand das weitere Vorgehen der Schweiz angesichts der wachsenden Zahl an Flüchtlingen, die versuchten, die Grenze zu überschreiten – insbesondere Juden auf der Suche nach Schutz vor den Nazis.

Die Dokumente aus dem Archiv sind teilweise schwer zu ertragen: «Hier und anderswo ist es nicht wünschenswert, dass die jüdische Bevölkerung eine gewisse Proportion übersteigt. Die Schweiz beabsichtigt nicht, sich von den Juden leiten zu lassen. Nicht mehr, als sie von einem anderen Ausländer geleitet werden möchte … Der Jude passt sich nicht leicht an … Auch darf man nicht vergessen, dass viele von ihnen eine Gefahr für unsere Institutionen sind. Sie sind sich Bedingungen gewohnt, in denen der Geschäftsinstinkt des Juden dazu tendiert, sich freien Lauf zu lassen.»

Diese Worte stammen von Heinrich Rothmund. Er war von 1919 bis 1955 Chef der eidgenössischen Immigrationsbehörde und nahm am 25. und 26. September an der Konferenz in Montreux teil. Die ganze Rede Rothmunds findet sich am Ende der Seite 19 von folgendem Dokument in Französisch aus «Diplomatische Dokumente der SchweizExterner Link«:

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Rothmunds Worte widerspiegeln einen Brief, den der Genfer Polizeioffizier Daniel Odier zehn Tage zuvor an ihn adressierte. Der Brief wurde von der unabhängigen Expertenkommission unter Jean-François Bergier in ihrem Bericht «Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des NationalsozialismusExterner Link» erwähnt.

Odier hatte geschrieben: «Viele in die Schweiz eingereiste Israeliten möchten sofort private Geschäfte unternehmen und Handel treiben. Die Korrespondenz dieser Personen zeigt deutlich, dass sie ihren Freunden und Bekannten mitteilen, ihnen ins schweizerische Paradies nachzureisen, und die Aufnahme eines einzigen in der Schweiz ermöglicht es zehn anderen, ihm nachzufolgen und sich bei uns festzusetzen. Ihre Aufenthaltsdauer in der Schweiz ist durchaus problematisch und sicherlich von sehr langer Dauer … Diese Flüchtlinge sind wenig diszipliniert, und sehr oft muss man resolut durchgreifen, damit sie ihre Verpflichtungen, die sie bei der Einreise unterzeichnet haben, einhalten.»

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Sechs Wochen zuvor, am 13. August, hatte die Schweizer Regierung die Grenzen für Juden geschlossen. «Nicht zurückzuweisen sind … politische Flüchtlinge, d.h. Ausländer, die sich bei der ersten Befragung von sich aus als solche ausgeben und es glaubhaft machen können. Flüchtlinge nur aus Rassengründen, z.B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge» hiess es in einem Kreisschreiben an die zivilen und militärischen Behörden.

Laut dem Bergier-Bericht lassen sich für die Zeit von Januar 1940 bis Mai 1945 rund 24’500 Wegweisungen an der Grenze nachweisen. Jüngere Studien kamen allerdings zum Schluss, dass diese Schätzung viel zu hoch sei. «Spätestens ab Sommer 1942 war bekannt», so der Bergier-Bericht, «dass den abgewiesenen Flüchtlingen die Deportation und Ermordung drohte».

Der Entscheid der Grenzschliessung für Juden vom 13. August führte zu Protesten der Öffentlichkeit, einiger linker Politiker und Hilfswerken. Am 30. August hielt der damalige Justizminister Eduard von Steiger eine Rede vor der «Jungen Kirche» in Zürich-Oerlikon. Es war das erste Mal, dass im Zusammenhang mit Flüchtlingen die Äusserung «Das Boot ist voll» verwendet wurde.

«Wer ein schon stark besetztes, kleines Rettungsboot mit beschränktem Fassungsvermögen und ebenso beschränkten Vorräten zu kommandieren hat, indessen Tausende von Opfern einer Schiffskatastrophe nach Rettung schreien, muss hart scheinen, wenn er nicht alle aufnehmen kann. Und doch ist er noch menschlich, wenn er beizeiten vor falschen Hoffnungen warnt und wenigstens die schon Aufgenommenen zu retten sucht», sagte er.

Die Dokumente zeigen auch, wie umstritten die Politik der Schweizer Regierung damals war und dass die Abweisung der verzweifelten Juden bei weitem nicht bei allen Bürgern und Bürgerinnen auf Zustimmung stiess: Am 7. September erhielt die Regierung von einer Mädchenklasse einer Sekundarschule in Rorschach im Nordosten der Schweiz einen Brief. Die Mädchen schrieben, sie seien «total schockiert» darüber, dass Flüchtlinge «so herzlos ins Elend» abgewiesen würden. Sie appellierten an eine grosszügigere und offenere Haltung der Schweiz:

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Eine Woche später erhielt ein anderes junges Schweizer Mädchen, das sich enttäuscht an die Regierung gewandt hatte, eine vierseitige Antwort, unterzeichnet von Justizminister von Steiger. «Wenn dein Ärger vorbei sein wird, hast du vielleicht für einen Moment etwas Geduld – junge Menschen sind selten geduldig – um über etwas nachzudenken», schrieb er leicht bevormundend. Und er fügte rund ein Dutzend «Hast du das gewusst?»-Fragen an. So fragte er das Mädchen zum Beispiel, ob es wisse, wie viele Flüchtlinge die Schweiz bereits aufgenommen habe oder ob es wisse, wie viele dieser Flüchtlinge als Spione enttarnt worden seien. «Hat dir das jemand gesagt oder wurde dir diese Information verwehrt?»

Von Steiger schloss mit den Worten: «Ich bin überzeugt, dass deine Anschuldigungen dich erröten lassen würden, wärst du besser informiert über die Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage auftreten und über die Bemühungen der Menschen, die sich mit Hingabe und Liebe für die Flüchtlinge einsetzen.»

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An der Konferenz vom 26. September verteidigte Rothmund den Entscheid der Regierung, die Grenzen zur Schweiz für jüdische Flüchtlinge zu schliessen. «Die Schweizer Bevölkerung hat vehement gegen diese Massnahme protestiert – weniger aus Sympathie für die Juden als weil sie deren Verfolger verurteilen. Diese Reaktion ist gesund. Sie zeigt, dass unser Land bis jetzt nicht vom Virus des Antisemitismus angesteckt wurde», sagte der damalige Chef der eidgenössischen Immigrationsbehörde.

Während des Zweiten Weltkrieges war der KurzwellendienstExterner Link eine der Hauptinformationsquellen für Schweizer im Ausland. Ein Blick in das Archiv und in das Wochenprogramm vor 75 Jahren zeigt aber, dass damals nicht erwähnt worden war, dass sich die Schweiz mit der Frage der jüdischen Flüchtlinge befasste. Vielmehr war die Rede vom Ausland, genauer von der Schlacht um Stalingrad:

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(Übertragung aus dem Englischen: Kathrin Ammann)

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