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Frankreich probt ein Stück namens direkte Demokratie

Flughafen in Paris mit einer ausgemusterten Concorde
Am Flughafen Tremblay-en-France bei Roissy. Er zählt zu den 14 zivilen Flughäfen rund um Paris, die von der staattlichen ADP-Gruppe betrieben wird. Die Regierung will die Gesellschaft nun in private Hände übergeben. Copyright 2019 The Associated Press. All Rights Reserved.

In Frankreich regt sich Widerstand gegen den Plan der Regierung, die Pariser Flughäfen zu privatisieren: Aktivisten sammeln Unterschriften, damit das Volk darüber abstimmen kann – ein Novum in der Geschichte der Republik. Präsident Macron ist für einen Ausbau der direkten Demokratie. Das macht seiner Regierung Angst.

«Starten wir das Referendum», steht auf den Plakaten, welche die Wände der Stellenbörse von Saint-Denis tapezieren. In dieser angesagten Pariser Banlieue wurde vergangene Woche an einer grossen Veranstaltung die Unterschriftensammlung für ein Referendum gegen die Privatisierung der Pariser Flughäfen lanciert.

Besucher aus der Schweiz würden staunen: Es sind hier weder Berge von Unterschriftenbogen noch von Kugelschreibern zu sehen. Immerhin müssen die Aktivisten 4,7 Millionen Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen, ihre Forderung zu unterzeichnen.

Die Erklärung: Hier läuft fast alles über das Internet. Aber schnell ist das offenbar nicht besonders. «Ich brauchte 25 Minuten, bis meine Unterschrift auf der Website des Innenministeriums erfasst wurde», beschwert sich Clémentine Autain, die für La France insoumise (radikale Linke) im französischen Parlament sitzt. «Ich schlage vor, dass wir unsere Erfahrungen punkto Computerfehlern und -pannen teilen», fügt die Parlamentarierin kämpferisch hinzu.

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Es ist eine grosse Premiere in der Geschichte Frankreichs: Wenn zehn Prozent der Stimmberechtigten den Vorstoss unterschreiben, werden die Bürgerinnen und Bürger über die geplante Flughafen-Privatisierung an der Urne abstimmen können. Das sind immerhin 4,7 Millionen Französinnen und Franzosen.

Und sie müssen innert neun Monaten mobilisiert werden! «Wir machen in neun Monaten schöne Babys», sagt Clementine Autain und lacht. Zum Vergleich: Wäre die Hürde für eine Volksinitiative in der Schweiz zehn Prozent, müssten rund 500’000 Stimmberechtigte unterschreiben. Das sind fünfmal mehr als in der Schweiz vorgeschrieben.

«Es wird alles getan, damit es nicht funktioniert»

Eine Herkulesaufgabe, wie der kommunistische Aktivist Guy Lecroq skizziert. «Wir müssen bis zu den Sommerferien hart arbeiten. Und danach müssen wir die Kampagne an der Fête de l’Huma nochmals neu lancieren.» Die angesprochene grosse kommunistische Veranstaltung der Zeitung L’Humanité reicht weit über die Grenzen der Partei hinaus. Denn diese ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten arg geschrumpft.

RIP oder wie funktioniert die «geteilte» Initiative?

Ein Vorstoss für ein Referendumsgesetz muss von mindestens einem Fünftel der Abgeordneten der Nationalversammlung eingereicht werden. Darauf prüft der Verfassungsrat, ob der Gesetzesentwurf die «Organisation der öffentlichen Verwaltung, Reformen im Bereich der Wirtschafts-, Sozial- oder Umweltpolitik des Landes» betrifft.

Nach der neunmonatigen Frist für die Online-Unterschriftensammlung für den Vorschlag prüft der Verfassungsrat, ob der Entwurf die Unterstützung von mindestens einem Zehntel oder aktuell 4,7 Millionen der registrierten Stimmberechtigten erhalten hat.

Wird der Gesetzesentwurf danach innerhalb von sechs Monaten nicht mindestens einmal in jeder der beiden Parlamentskammern geprüft, bringt der Präsident die Vorlage einer Abstimmung.

Das französische Innenministerium hatte tatsächlich Probleme mit der Website zur Erfassung der UnterschriftenExterner Link. «Um zu unterschreiben, braucht man seine Wählerkarte. Das Institut INSEE, das die Wählerdaten zentralisiert, macht aber manchmal Fehler bei den Namen», sagt Guy Lecroq. «Damit es funktioniert, müsste man diese Fehler kennen…»

«Es wird alles getan, damit es nicht klappt», sagt Olivier Faure, Vorsitzender der Sozialistischen Partei. Er war es, der letzten Dezember mit ein paar weiteren sozialistischen Abgeordneten die verrückte Idee für die Volksabstimmung hatte.

Keine Kultur

Zu jener Zeit gingen Hunderttausende Mitglieder der Protestbewegung «Gilets Jaunes» in ganz Frankreich auf die Strasse. Einer ihrer Slogans war «Macron, tritt zurück!» Eine weitere Forderung betraf die direkte Demokratie. Konkret ging es um eine Volksabstimmung über die Einführung einer Bürgerinitiative in Frankreich. Dieses so genannte RIC ist eine recht explosive Mischung zwischen der Schweizer Volksinitiative und dem fakultativen Referendum.

Die «Gelben Westen» wollen dem Volk seine Souveränität zurückgeben. Denn Frankreich ist ein Land, in dem die Regierung praktisch über alles entscheidet. Nur: Präsident Emmanuel Macron steht in der Kritik und ist geschwächt.

Die Abgeordneten der Opposition von rechts und links spüren die Verwerfungen. Im Parlament sind sie gegen die überwältigende Mehrheit der Partei des Präsidenten aber machtlos.

Nun haben Olivier Faure & Co. ein Instrument ausgegraben, um das Privatisierungsprojekt für die Pariser Flughäfen zu stoppen. Es handelt sich um das Referendum für eine «geteilte» Initiative (référendum d’initiative partagée, RIP). «Geteilt» darum, weil es dafür einerseits Unterstützung aus dem Parlament braucht, andererseits auch von zehn Prozent der registrierten Stimmberechtigten, also der erwähnten knapp fünf Millionen Stimmberechtigten.

Das Besondere daran: Es handelt sich um eine Premiere, ist doch diese geteilte Initiative noch nie anwendet worden. Schon daher ist klar: ein Renner ist das RIP nicht.

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Der Grund: Es ist ein seltsames, ziemlich mangelhaftes und sehr restriktiv ausgelegtes System, das 2008 vom damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy eingeführt wurde. Es geht dabei nicht um eine Initiative nach Schweizer Art. Denn die geteilte Initiative kann nur von Abgeordneten lanciert werden und braucht die Zustimmung von einem Fünftel aller Parlamentsmitglieder.

Es ist aber auch kein Referendum im gaullistischen Stil, weil die Bürger beim RIP mit einbezogen werden, damit es zu einer Abstimmung kommen kann.

An der Veranstaltung in Saint-Denis macht man grosse Augen, wenn man sieht, wie sich politische Verantwortliche der Linken gut gelaunt mit ihren Kollegen von der Rechten unterhalten. Clémentine Autain, die radikale Linke, scherzt mit Gilles Carrez von der rechten Partei der Republikaner. Ist dies der Beginn eines Konsenses nach Schweizer Art?

«Dies ist ein ungewöhnliches Treffen», räumt der kommunistische Abgeordnete Stéphane Peu ein. Aber er hat die Erklärung sofort parat: «Die Schwellen für das RIP sind derart hoch, dass es nie zu einem Referendum kommt, wenn wir nicht in der Lage sind, die Linke und die Rechte zusammenzubringen.»

Schweizer System ist Teil der Debatte

Das Referendum der «geteilten» Initiative befriedigt niemanden von den Anwesenden. Gewisse träumen über das von den «Gelben Westen » geforderte Referendum für eine Bürgerinitiative. Denn dieses würde es ermöglichen, nicht nur Initiativen zu ergreifen, sondern auch gegen Gesetze des Parlaments vorzugehen oder gewählte Politiker zu entlassen.

Auch das Schweizer System ist Gegenstand der Debatte. «Wir möchten weiter gehen als das RIP», erklärt Oliver Faure, der Chef der Sozialistischen Partei. «Wir müssen dazu jedoch Verfahrensabläufe finden, die für ein so grosses Land wie Frankreich adäquat sind.»

«Dass das Volk wie in den Schweizer Kantonen regelmässig abstimmen kann, scheint mir nicht die richtige Lösung zu sein», sagt Faure. «Um die Interaktion zwischen den Bürgern und ihren Abgeordneten zu verbessern, empfehlen wir zum Beispiel Bürger-Änderungsanträge. Würde ein solcher Antrag von mehr als 15’000 Stimmberechtigten unterstützt, müsste das Parlament ihn behandeln.»

Angst der Regierungskollegen

Nach der nationalen «grossen Debatte», die er als Reaktion auf die Proteste der «Gelben Westen» lanciert hatte, versprach Präsident Emmanuel Macron, das RIP auszubauen – durch Senkung der Anzahl der notwendigen Unterschriften. Und vor allem, indem die Initiative für das Verfahren von den Bürgerinnen und Bürgern ausgehen soll statt von einem Parlamentsmitglied.

Doch obschon das aktuelle System sehr eng, gar abschreckend gestaltet ist, lässt es die Hardliner der Fünften Republik erschaudern. Allen voran Premierminister Edouard Philippe. «Es ist nicht gesund, wenn die parlamentarische Vertretung das, wofür das Volk gestimmt hat, korrigiert und umgekehrt. Deshalb müssen wir sicherstellen, dass das RIP ein Instrument der direkten Demokratie bleibt und nicht zu einem Instrument des Protestes gegen das Parlament wird.» Anders gesagt, es dürfte in Frankreich schwierig werden, repräsentative Demokratie und direkte Demokratie unter einen Hut zu bringen.

Frankreich bleibt Frankreich. Eine repräsentative Demokratie. Aber auch ein politisch sehr polarisiertes Land. Das Wort «Referendum» bezieht sich mehr auf ein Plebiszit für oder gegen den Staatschef, als auf eine Entscheidung zu einem bestimmten Thema, in diesem Fall auf die Privatisierung der Pariser Flughäfen. Das Wort macht Angst.

Ruffin wirft sich in die Bresche

Einige schreiben François Ruffin, dem populären Abgeordneten der linksradikalen Partei La France insoumise den Wunsch zu, er wolle aus dieser Kampagne eine Art Referendum gegen Macron machen.

In der Nationalversammlung sagte Ruffin, er werde sich für das Referendum in die Bresche werfen. «Demokratie heisst, die Kontrolle über unser gemeinsames Schicksal wieder in die Hand zu nehmen. Und wir müssen mit etwas beginnen, auch wenn es nur ein kleiner Schritt ist. Da das erste Referendum für eine ‹geteilte› Initiative, das erste unserer Geschichte, uns dies möglich macht, beginnen wir doch mit dem Asphalt der Flughäfen. Bevor wir zu unseren Schulen, unseren Wäldern, unseren Zügen, unseren Geburtskliniken, unseren Gerichten schreiten.»

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Als François Ruffin zu einer «Leidenschaft» für Referenden aufrief, antwortete Premierminister Edouard Philippe: «Keine Abstimmung, keine Wahl macht den Demokraten Angst». Dabei nutzte er das Wort «Abstimmung», einen Ausdruck mit einer sehr starken Schweizer – und einer sehr kleinen französischen – Resonanz.

Die Frage ist, ob Frankreich ein Referendum durchführen kann, und das ohne, dass dieses zu einer rein politischen Abstimmung würde. «Alle aufrichtigen Verfechter eines Miteinanders der repräsentativen und der direkten Demokratie, zu denen ich mich zähle, müssen daher aufpassen, dass sie nicht in die Falle der Personalisierung des Referendumsverfahrens tappen», schrieb Jacques Julliard, einer der bekanntesten Leitartikler in der Wochenzeitung Marianne. 

«Folgen wir dem Beispiel der Schweiz, dem Referenzland, wo die Exekutive durch das Resultat eines Referendums zu einem bestimmten Projekt nicht in Frage gestellt wird.»

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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