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«Wer nicht in die Pedale tritt, fällt schliesslich um»

Anne Paugam dans son bureau
Anne Paugam in ihrem Büro der französischen Botschaft in Bern. Béatrice Devènes

Der bilaterale Weg brauche neuen Schwung, meint Anne Paugam, Frankreichs Botschafterin in der Schweiz. Auch ist sie froh, dass die Beziehungen zwischen Paris und Bern wieder entspannter sind und erklärt, die Rafale-Gruppe sei interessiert am Kampflugzeugmarkt in der Schweiz.

Le Temps: Sie sind seit einem Jahr Frankreichs Botschafterin in der Schweiz. Was hat Sie in unserem Land überrascht?

Anne Paugam: Es waren im Wesentlichen gute Überraschungen. Ich entdecke ein Land, über das ich nur wenig wusste. Ich wurde sehr direkt und auch herzlich empfangen. Ich wurde mir der Dichte unserer Beziehungen bewusst, und dass diese viel ausgeglichener sind, als man glauben könnte.

Frankreich ist der drittgrösste Handelspartner der Schweiz, und diese ihrerseits der drittgrösste Markt Frankreichs ausserhalb der Europäischen Union. Die Schweiz ist der zweitgrösste ausländische Investor in Frankreich, und Frankreich der drittgrösste ausländische Investor in der Schweiz.

Mit rund 180’000 Personen beherbergt die Schweiz die grösste Gemeinde von Franzosen und Französinnen im Ausland, dazu kommen die 170’000 Grenzgänger und Grenzgängerinnen. Ich könnte viele weitere Beispiele anführen.

Le Temps: Wegen des Steuerstreits waren die bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern lange belastet. Wie sieht es heute aus?

A.P.: Ich hatte das Glück, mein Amt zu einer Zeit anzutreten, in der sich das Klima beruhigt hatte. Wir sind Lichtjahre entfernt von den Spannungen, die von diesen irritierenden Dossiers geprägt waren. Wir befinden uns heute in einer Phase der positiven Zusammenarbeit.

Le Temps: Der Prozess gegen die Grossbank UBS in Frankreich wird wohl gegen Ende Jahr beginnen. Besteht nicht das Risiko, dass er als Prozess gegen die Schweiz als Steuerhinterzieherin inszeniert werden wird… Die es so nicht mehr gibt?

A.P.: Das gerichtliche Verfahren ist im Gang, und es steht mir nicht zu, dies zu kommentieren. Ich glaube aber, es besteht keine Gefahr, dass die Glut wieder angefacht wird, das wünscht sich niemand. Es könnte unter Umständen im Gegenteil gar die Gelegenheit sein, darauf aufmerksam zu machen, welchen Weg die Schweiz zurückgelegt hat.

Le Temps: Denken Sie, Schweizerinnen und Schweizer lösen sich langsam vom Bild, dass Frankreich ein Land ist, das nicht reformfähig ist?

A.P.: Es stimmt, das Bild, das sich Schweizer von Frankreich machten, war generell etwas angeschlagen. Im wirtschaftlichen Bereich ist jedoch schon eine sehr rasche Veränderung in Gang gekommen.

Erstens, weil Frankreich wieder ein Wachstum verzeichnet, das in diesem Jahr 1,7% erreichen dürfte. Wir ergriffen auch sehr gezielte Massnahmen, um das Defizit ab 2017 auf weniger als 3% des Budgets zu senken.

Und zudem setzen wir im Bereich Arbeit und Steuern ein sehr wichtiges Reformpaket um. Dieses beruht einerseits auf der Grundlage von Einfachheit und Berechenbarkeit, andererseits auf produktiven Investitionen, also der Schaffung von Arbeitsplätzen.

Le Temps: Haben das Klimaabkommen von Paris oder auch Innovation der Schweiz und Frankreich ermöglicht, neue Gemeinsamkeiten zu finden?

A.P.: Genau. Wir arbeiten bei internationalen Themen, bei globalen Herausforderungen wie dem Klima, oft zusammen. Wie Frankreich verfolgt die Schweiz im Bereich Energiewandel eine zielgerichtete Politik.

Und Innovation ist zu einer gemeinsamen Leidenschaft geworden. Die Schweiz ist dank der Nähe ihrer Hochschulen zur Wirtschaft ein sehr innovatives Land. Aber auch Frankreich befindet sich mit zahlreichen Start-up-Inkubatoren und der Beschaffung von Finanzmitteln, die sich jedes Jahr verdoppeln, in einer guten Ausgangslage.

Le Temps: Bei der Europa-Rede von Emmanuel Macron konnte man ein sehr europäisches Frankreich entdecken, während die Schweiz sich heute sehr euroskeptisch zeigt. Überrascht Sie dieser Kontrast?

A.P.: Das Europa-Dossier ist ein Thema, das wir aufmerksam verfolgen. Wir sehen klar, dass man sich in der Schweiz dazu Fragen stellt. Ich glaube, es kann für die Schweiz nur von Vorteil sein, im Zentrum eines Europas zu liegen, das nicht trübsinnig ist und zerfällt, sondern ein Projekt hat.

Sie werden auch bemerkt haben, dass Emmanuel Macron in seinen Vorschlägen zu Europa auf Souveränität beharrt hat, was sowohl in der Schweiz als auch in Frankreich Thema ist. Im Herzen des europäischen Projekts steht der Gedanke, dass man gemeinsam stärker ist als ganz allein. Das ist eine andere Art und Weise, seine Souveränität auszuüben.

Le Temps: Denken Sie, dass die Menschen in der Schweiz sich der aktuellen Dynamik bewusst sind, das heisst, eines Europas, das wieder auf Wachstumskurs ist?

A.P.: In der Schweiz ist die Debatte über ihr Verhältnis zur EU nicht vorbei. Die Wahrnehmung einer Schweiz als Wohlstandsinsel umgeben von einem von Problemen geplagten Europa reflektiert die Realität von heute aber nicht.

Die Schweiz braucht sicher ein strukturierteres Verhältnis zur EU. Doch zuerst musste man das Risiko aus dem Weg räumen, das sich aus der Abstimmung von 2014 über die Einwanderung ergeben hatte. Mit dem am letzten 16. Dezember verabschiedeten Gesetz sollte nun verhindert werden können, dass diese Struktur des bilateralen Wegs, von dem die Schweiz profitiert, zu Fall gebracht wird.

Nun muss man sich aber die Frage stellen, ob das aktuelle Dispositiv in einer Welt, die in Bewegung ist, nicht zu schwerfällig, zu komplex, zu statisch ist.

«Die Wahrnehmung einer Schweiz als Wohlstandsinsel umgeben von einem von Problemen geplagten Europa reflektiert die Realität von heute aber nicht.»

Le Temps: Es scheint, dass die Schweizer sich damit zufriedengeben wollen!

A.P.: Ja, aber das System ist zu schwerfällig. Die Schweiz hat in vielen Bereichen Zugang zum Binnenmarkt, mit etwa 120 thematischen Abkommen mit der EU und zahlreichen gemeinsamen Ausschüssen, in denen wir, wenn wir nicht gleicher Meinung sind, reden und reden, ohne immer Fortschritte zu machen, weil es kein Organ zur Schlichtung von Streitfällen gibt.

Deshalb sagt die Europäische Kommission schon seit etlichen Jahren, dass es ohne eine institutionelle Vereinbarung keine weiteren Abkommen über den Zugang zum Binnenmarkt mehr geben werde. Und in all diesen Jahren entwickelt sich die EU immer weiter, sie verabschiedet neue Normen, zum Beispiel im Bereich Digitalisierung. Damit diese bilaterale Beziehung aufrechterhalten werden kann, braucht es ein Mantelabkommen.

Le Temps: So nennen Sie das? Das ist ja ein Vorschlag für den neu gewählten Bundesrat Ignazio Cassis, der für das Europa-Dossier ein neues Vokabular fordert…

A.P.: Es stimmt, Fragen des Vokabulars sollte man nicht unterschätzen. Aber über Worte hinaus kann man gut sehen, dass es etwas braucht, um diesem bilateralen Weg neuen Schwung zu verleihen.

Heute hat die Schweiz Zugang zum EU-Binnenmarkt, der auf einem einheitlichen Regelwerk beruht. Wir EU-Europäer sind zum Beispiel der Ansicht, dass ein in Deutschland produziertes und zertifiziertes Produkt auch auf den französischen Markt gebracht werden kann. Und falls wir nicht gleicher Meinung sind, bringen wir den Fall vor den Europäischen Gerichtshof.

Mit der Schweiz können wir das nicht tun. Mir scheint, es wäre von Vorteil für die Schweiz, diese Beziehung, die heute zu statisch ist, weiter zu entwickeln. Es ist ähnlich wie beim Velofahren. Wer nicht in die Pedale tritt, fällt schliesslich um.

Le Temps: Scheinen Ihnen die wichtigsten Parteien in der Schweiz nicht wie gelähmt bei der Vorstellung, in der Frage der «fremden Richter» gegen die Schweizerische Volkspartei (SVP) anzutreten?

A.P.: Das Wort «gelähmt» ist zu stark, aber wir verstehen die Sensibilität dieses Konzepts der «fremden Richter». Innerhalb der EU stellt sich niemand Fragen über die Nationalität der Richter am Europäischen Gerichtshof. Es ist ein unabhängiger Gerichtshof, der Recht spricht. Er hat keine einseitigen Vorurteile zugunsten der einen oder anderen Partei.

Es ist nicht gesagt, dass die Schweiz bei gewissen Streitigkeiten nicht als Siegerin hervorgehen könnte. Wir verstehen, dass diese Debatte einen Bezug zur Geschichte der Schweiz als Willensnation hat, die als Reaktion auf die Nachbarmächte entstanden war. Aber was auch immer das Erbe der Vergangenheit sein mag, man muss in die Zukunft blicken.

«Wir alle sind darauf angewiesen, geliebt zu werden. Auch Frankreich braucht es, von der Schweiz geliebt zu werden.»

Le Temps: Hat Frankreich, das seine Industrie fördert, Interesse am Ausschreibungsverfahren zur Beschaffung neuer Kampfflugzeuge, das in der Schweiz lanciert werden wird?

A.P.: In der Schweiz ist ein interner Prozess im Gang, bei dem es um die Erneuerung der gesamten Kampfflugzeug-Flotte geht. Der Prozess ist aber noch nicht abgeschlossen.

Es dürfte Sie kaum überraschen, dass ich sage: Wenn der Moment kommt, wird es sicher ein industrielles Angebot von Rafale International geben. Diese Art Offerte ist generell begleitet von einem Antrag für eine Partnerschaft im Bereich der militärisch-technischen Zusammenarbeit.

Wir werden ein offenes Ohr haben für die Wünsche der Schweiz. Schon heute ist diese Partnerschaft sehr eng. Frankreich und die Schweiz führen zum Beispiel im Bereich der Luftverteidigung gemeinsame Ausbildungsmissionen durch. Die französische Luftwaffe verwendet für die Ausbildung ihrer Piloten das Schweizer Flugzeug Pilatus PC21. Zusammenarbeit gibt es im Bereich Luftraumüberwachung und beim Auftanken während dem Flug.

Le Temps: Welche Vorteile hätte die Schweiz, wenn sie in Frankreich einkaufen würde?

A.P.: Diese Diskussion ist etwas verfrüht, da die Ausschreibung noch gar nicht lanciert wurde. Aber man muss unterstreichen, dass die Beschaffung von Kampfflugzeugen – deren Lebensdauer 30 bis 40 Jahre umfasst – sich in den Rahmen einer von Vertrauen geprägten und sehr lange währenden geostrategischen Beziehung einreihen muss.

Le Temps: Die Schweiz ist darauf angewiesen, geliebt zu werden. Gewisse französische Präsidenten gaben dem französisch-schweizerischen Verhältnis eine persönliche Prägung. Wird Emmanuel Macron ein Freund der Schweiz werden?

A.P.: Wir alle sind darauf angewiesen, geliebt zu werden. Auch Frankreich braucht es, von der Schweiz geliebt zu werden. Unser Präsident kennt die Schweiz gut und würdigt sie entsprechend. Machen Sie sich dazu keine Sorgen.

Dieses Interview wurde am 4. Oktober 2017 in der Westschweizer Tageszeitung Le TempsExterner Link publiziert.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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