Freie Plätze in der Kommandostruktur der Nato: Die Schweiz ist interessiert
Am Gipfeltreffen der Nato im litauischen Vilnius hat sich die Verteidigungsallianz neu aufgestellt. Was bedeutet das für die neutrale Schweiz? Und was würde eine Annäherung an die Nato konkret bedeuten?
«Ich würde mir wünschen, dass ich mich immer so sicher fühlen könnte», erklärte der litauische Staatspräsident Gitanas Nausėda zur Eröffnung des zweitägigen Nato-Gipfels am 11. Juli.
Tatsächlich glich Vilnius, Litauens Hauptstadt, die nur wenige Kilometer vom geografischen Mittelpunkt des «grossen» Europas vom Ural bis zum Atlantik entfernt liegt, in diesen letzten Tagen einer hochgerüsteten Festung: Über 12’000 zivile und militärische Sicherheitskräfte sicherten das Jahrestreffen der Verteidigungsallianz ab.
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Am Flughafen hatte die deutsche Bundeswehr gar einige Exemplare des Flugabwehrraketensystems Patriot in Stellung gebracht.
Dieses Gipfeltreffen hatte es denn auch in sich: 500 Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine stellte sich die NATO in Vilnius neu auf.
Durch die Einigung auf die Erweiterung in Nordeuropa, den Ausbau der Beziehungen in den Indo-Pazifik und das Versprechen eines Beitrittsprozesses an die Ukraine.
Keine Schweizer Präsenz am Gipfel
Die Schweiz – immerhin seit 1997 offizielle Partnerin des Bündnisses – zeigte in Vilnius zwar keine Flagge. «Die Schweiz ist weder als Teilnehmerin noch als Beobachterin eingeladen», hiess es dazu beim Eidgenössischen Department für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) auf Anfrage.
Gleichwohl zeigt sich die Schweiz an einer verstärkten Präsenz und an einem Engagement in der Nato interessiert. «Durch die Mitgliedschaft der nordischen Staaten werden jetzt Plätze in den Kommandostrukturen der Nato frei», hält Pälvi Pulli, die Chefin Sicherheitspolitik im VBS, im Gespräch mit SWI swissinfo.ch im Vorfeld des Gipfels fest. «Auch prüft die Schweiz die Entsendung von Personal an Nato-Exzellenz-Zentren wie dem Kompetenzzentrum für Pionierwesen.»
Diese Fachstelle mit Sitz im deutschen Ingolstadt unterstützt die Nato und ihre Partnerstaaten in der militärischen Strategieentwicklung.
Tatsächlich schaffe – so Pulli – der Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch Herausforderungen für die Schweiz: «Die Gruppe der europäischen Nato-Partnerschaftsstaaten ist kleiner geworden und hat jetzt weniger Gewicht gegenüber der Allianz.» Laut Pälvi Pulli erwägt die Schweiz nun deshalb, sich «am ganzen Spektrum der Übungen, auch zur kollektiven Verteidigung im Rahmen von Artikel 5 des Nato-Vertrages teilzunehmen.»
Nach Artikel 5 des NATO-Vertrages wird ein Angriff auf einen verbündeten Staat als Angriff auf alle Bündnispartnerstaaten betrachtet.
Grund dafür sind die jüngsten geopolitischen Entwicklungen, betont die Chefin Sicherheitspolitik im VBS: «Wenn die Schweiz angegriffen werden sollte, dann entfallen die neutralitätsrechtlichen Verpflichtungen und wir sollten dann die Option haben, uns gemeinsam mit unseren Partnerstaaten, die meisten davon Nato-Mitglieder, verteidigen zu können.»
Auch dazu solle die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit dienen. Eine solche Situation erscheine ihr heute nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine plausibler als zuvor.
Jede Annäherung an die Nato, so unterstreicht Pälvi Pulli, könne «nur unter der Beachtung der Neutralität und der Interessen der Partnerstaaten» stattfinden. Da stellt sich natürlich die Frage, welche Form von Neutralität gemeint ist?
Dazu Pulli: «Es gibt keinen fixen, etablierten Verhaltenskodex für neutrale Staaten. Wir können die Handhabung der Neutralität weitgehend eigenständig definieren.» Aber klar sei auch, «dass die direkte Waffenlieferung an ein kriegsführendes Land wie die Ukraine neutralitätsrechtlich ausgeschlossen ist, ebenso wie die Verpflichtung zur gemeinsamen Verteidigung».
30 Kilometer bis nach Belarus
Vor Ort in Vilnius zeigt sich denn auch, wie dringlich Fragen der kollektiven Sicherheit geworden sind. Eingeklemmt zwischen der russischen Exklave Kaliningrad im Westen und Belarus im Süden weist Litauen viele Ähnlichkeiten mit Berlin zu Zeiten des Kalten Krieges auf: Nur gut 30 Kilometer ausserhalb der Hauptstadt trennt eine mit hohen Zäunen gesicherte Grenze die (demokratische) europäische von der (autoritären) russischen Zone.
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Bei einem Augenschein am Grenzposten Medininkai trifft SWI swissinfo.ch auf zahlreiche irakische und syrische Flüchtlinge, die von den belarussischen Behörden auf Velos über die Grenze geschickt werden. Sie wollen keine Fragen beantworten oder fotografiert werden. Gemäss dem finnischen Sicherheitsexperten Rasmus Hindren sind sie Teil «einer hybriden Kriegsführung, wie wir sie seit Jahren an verschiedenen Aussengrenzen der EU beobachten».
Während Litauen (65’000 Quadratkilomenter Fläche, 2,8 Mio. Einwohner:innen) die Gipfeltage mit Nachdruck nutzte, um in aller Deutlichkeit Russlands Krieg in der Ukraine mit den eigenen Sicherheitsinteressen zu verknüpfen, war von der Schweiz und ihren Sicherheitsanliegen an diesem Treffen in Vilnius nichts zu spüren.
«Šveicarijos generalinis konsulatas», Schweizerisches Generalkonsulat heisst es stolz auf einem silbernen Schild an bester Adresse im hochmodernen Vilniuser Geschäftsviertel Piromontas. Vor über zwanzig Jahren bei einem Staatsbesuch des damaligen Bundespräsidenten Moritz Leuenberger eröffnet, haben die Litauer:innen dies «als ersten Schritt zur Errichtung einer regelrechten Botschaft» verstanden, erinnert sich der frühere Konsul Bruno Kaspar beim Gespräch mit SWI swissinfo.ch in den hellen Räumlichkeiten des Konsulats im 16. Stock mit einem prächtigen Ausblick über die litauische Hauptstadt, in der eine gute halbe Million Menschen leben.
Doch es kam anders: Nach dem Beitritt Litauens (gemeinsam mit den beiden anderen baltischen Staaten Lettland und Estland) zur Europäischen Union und zur Nato Mitte der Nullerjahre, verlor Bern – so Kaspar – «leider etwas das Interesse an diesen spannenden und demokratischen Kleinstaaten an der Grenze zu Russland». Statt einem Ausbau kam es zu einem Abbau der diplomatischen Präsenz: Der Pass- und ID-Service für Schweizer:innen im Baltikum wurde ins ferne Stockholm ausgelagert, als ehrenamtliche Honorarkonsulin vertritt heute die Immobilienfachfrau Daiva Kaspar die Schweiz in Litauen.
Es gibt nur wenige Schweizerinnen und Schweizer in Litauen. Einer von den 38 spielt jedoch für den Kultur-Austausch zwischen den beiden Ländern eine gewichtige Rolle: Er heisst Markus Roduner, stammt ursprünglich aus dem aargauischen Rheinfelden und leitet den litauischen Hieronymusverlag.
Gegenüber SWI swissinfo.ch sagt Roduner, der seit 30 Jahren im Baltikum lebt, dass es zwischen der Schweiz und Litauen sehr viele Beziehungen gebe – und das nicht ohne Grund: «So gehörten im 18. Jahrhundert Teile der heutigen Schweiz und des heutigen Litauens dem gleichen Staat an, Preussen.»
Editiert von Mark Livingston.
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