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In Genf bereden Zivilisten aus Syrien die Zukunft ihres Landes

Ein Mädchen geht vor einer mit der syrischen Fahne bemalten Wand und schaut nach links.
Wohin führt der Weg? Ein Mädchen in der nordsyrischen Stadt Jarablus. Die drei roten Sterne stehen für die oppositionelle Freie Syrische Armee. Keystone

Die Friedensgespräche in Genf liegen auf Eis. Der Krieg in Syrien dauert an. Trotz aller Widrigkeiten läuft fernab des Kriegslärms ein stiller Friedensprozess. Die Schweiz spielt dabei eine wichtige Rolle.

Treffen im September

Der UNO-Sonderbeauftragte für Syrien, Staffan de Mistura, hat für am 14. September Vertreter mehrerer westlicher Länder und des Nahen Ostens zu einem Treffen nach Genf eingeladen. Gesprächsthema wird die künftige syrische Verfassung sein.

Zwei Tage davor soll im Palais des Nations ein Treffen mit Vertretern Russlands und Irans, die das Damaskus-Regime unterstützen, und der Türkei, unterstützt von der syrischen Opposition, stattfinden, um einen Verfassungsausschuss zur Ausarbeitung dieses Dokuments zu bilden. (afp)

Raum I im Palais des Nations in Genf bietet Platz für 71 Personen. Decke und Wände sind mit Holz verkleidetet, in der Mitte des hohen Raumes bilden grosse Tische ein Quadrat. Wer auf einem der massiven Holzstühle sitzt, schaut den anderen Anwesenden direkt in die Augen. Die Armlehnen stehen dicht aneinander, es scheint unmöglich, den Nachbarn nicht zu berühren.

Hier treffen sich auf Einladung der UNO Menschen wie Belal und Asma*, um während ein paar Tagen über die Zukunft ihres Landes zu reden: Syrien, das seit sieben Jahren von einem Krieg mit Hunderttausenden Toten heimgesucht wird. Der Journalist und die Friedensaktivistin sind syrische Zivilgesellschafts-Akteure. Was sie verbindet, ist der Wunsch nach Frieden. Unterschiedliche politische Ansichten hindern sie nicht daran, im Raum I zusammen zu reden.

 «Ich stehe ein für die Menschenrechte. Wer diese Werte nicht teilt, ist beim CSSR wohl am falschen Ort.» Asma

Den CSSR (Civil Society Support Room), eine Diskussionsplattform, gibt es seit anfangs 2016. Die Schweiz hat ihn in Zusammenarbeit mit dem Büro des UNO-Sondergesandten für Syrien (OSE), Staffan de Mistura, konzeptualisiert. Auch Norwegen und Schweden waren beteiligt. Umgesetzt wird er vom Friedensinstitut swisspeaceExterner Link mit Sitz in Bern, zusammen mit dem norwegischen Zentrum für Konfliktlösung (NOREFExterner Link).

Ein älterer Mann mit Brille sitzt vor dem UNO-Emblem und spricht in ein Mikrofon.
De Mistura wurde im Sommer 2014 zum UNO-Sondergesandten für Syrien ernannt. Er will die Zivilgesellschaft auch in den Friedensprozess einschliessen. Keystone

Kein Platz für Kriegsparteien

Der CSSR soll ein Ort des Austauschs sein sowie Zugang zu Fachwissen bieten und so den Beitrag der Zivilgesellschaft zu den offiziellen Friedensgesprächen stärken. «Wir wollen die Rolle der Zivilgesellschaft als Brückenbauer stärken», sagt Salvatore Pedulla. Er gehört zum OSE-Team und ist verantwortlich für die Diskussionsplattform. Das tönt gut. Aber wer ist die syrische Zivilgesellschaft?

Pedulla erwähnt Nichtregierungsorganisationen, Basisbewegungen, Freiwilligenarbeiter, Vertreter humanitärer Organisationen, Akademiker, ehemalige Beamte und Frauenbewegungen. Ziel sei es, ihnen und ihren Anliegen bei den Verhandlungsdelegationen in Genf Gehör zu verschaffen. «Bedingung ist, dass die Teilnehmenden an einer friedlichen Lösung arbeiten wollen, auch mit Personen, die eine andere politische Meinung vertreten oder aus einer anderen Region Syriens kommen.»

Ausgeschlossen von den Diskussionsrunden sind Mitglieder politischer Parteien und Vertreter von Konfliktparteien, die an den offiziellen Friedensgesprächen teilnehmen.

«Die Zivilgesellschaft kämpft für eine Sache. Im Zentrum stehen alle Syrer und Syrerinnen und deren Menschenrechte.» Belal

«Das ist kein Workshop»

«Die Teilnehmenden sind unglaublich mutig, einige riskieren durch ihr Engagement sehr viel», sagt Pedulla. Betroffen von den Gräueln des Krieges sind alle. Während einer Gesprächsrunde in Genf klingelt das Telefon eines Teilnehmers. Er erfährt, dass ein Onkel und der Schwiegervater bei einem Angriff ums Leben kamen. «Solche Ereignisse machen das Ganze unglaublich real, es ist nicht einfach ein Workshop», sagt Pedulla.

Situation in Idlib

Unmittelbar vor Beginn einer Syrien-Konferenz in Teheran sind nach Angaben einer oppositionellen Gruppierung die Luftangriffe auf die Rebellen-Provinz Idlib fortgesetzt worden.

Im Süden der Region im Nordwesten Syriens seien mehrere Angriffe erfolgt, nachdem es in der Nacht ruhig geblieben sei, teilte die Syrische Beobachtungsgruppe für Menschenrechte am Freitag mit. Auch in den Tagen zuvor kam es nach Angaben von Regierungsgegnern in der Provinz zu Luftangriffen.

In Teheran trafen derweil die Präsidenten Russlands und der Türkei, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan, ein. Zusammen mit ihrem iranischen Amtskollegen Hassan Ruhani wollen sie das weitere Vorgehen in Idlib beraten. 

Die Provinz Idlib ist die letzte zusammenhängende Region, die von vorwiegend islamistischen Rebellengruppen gehalten wird. Assad hat Truppen an der Front im Nordwesten nahe Idlib zusammengezogen, wo zahlreiche Zivilisten, aber auch viele aus anderen Landesteilen geflohene und vertriebene Rebellen ausharren. 

Russland und der Iran unterstützen Assad und haben erklärt, die syrische Regierung habe jedes Recht die Aufständischen zu vertreiben. Die Türkei unterstützt hingegen einen Teil der Rebellen und befürchtet einen neue Flüchtlingswelle aus dem Nachbarland. 

(SDA)

Tabus gibt es keine

«Gesprochen wird über alles», sagt Pedulla. Es geht um Gesetzes- und Verfassungsreformen, Vermisste, Gefangene und Entführte, um Waffenruhe, Frauenrechte und humanitären Zugang. Einige Themen werden von den Organisatoren vorgeschlagen, andere bringen die Teilnehmenden selber ein. «Der erste Tag einer Gesprächsrunde ist häufig etwas harzig. Oft wollen die Teilnehmenden erstmal nicht von ihren Positionen abweichen. Aber ihr Wunsch nach Frieden durch Dialog hilft, solche Differenzen zu überwinden.

Sind solche Diskussionen nicht etwas theoretisch? «Einige sicher, aber das gehört zum Mediations-Prozess», erklärt Pedulla. «Wir sprechen über Zukunftsvisionen.»

Insgesamt acht CSSR-Gesprächsrunden fanden bisher in Genf statt, jeweils am Rande der offiziellen Friedensgespräche. Diese liegen zurzeit zwar auf Eis. Das will aber nicht heissen, dass der CSSR nichts mehr zu tun hat: Mitarbeitende organisieren Öffentlichkeitsarbeit und Konsultationen in der Region um Syrien, es finden Videokonferenzen statt, Webcasts werden übertragen. Immer mit dem Ziel, noch mehr Akteure zu erreichen und Stimmen zu hören.

Geht es um Zivilisten in Not, kann es sehr konkret werden: So bat eine humanitäre Organisation aus Rakka um eine Internetkonferenz mit wichtigen UNO-Mitgliedstaaten wie Russland und den USA in Genf. Es ging um vertriebene Familien, die an einem Checkpoint nicht weiterkamen. Die Vertreter der Organisation baten die Diplomaten, ihren Einfluss in dem Gebiet zugunsten der Familien geltend zu machen.

Mehr als 400 Personen nahmen schon an einer CSSR-Veranstaltung teil, gut 100 davon waren bei mehreren Konsultationen dabei, darunter auch Belal und Asma. Unter den Teilnehmenden finden sich auch Vertreter von syrischen Netzwerken, die zusammen über 350 zivilgesellschaftliche Organisationen umfassen. Der CSSR schätzt seine bisherige Gesamtreichweite auf knapp 800 Gesprächspartner und -partnerinnen.

Nicht nur Assad war misstrauisch

Das Bild der syrischen Zivilgesellschaft hat sich über die zweieinhalb Jahre verändert, wie Pedulla feststellt. Der CSSR stiess zu Beginn nicht nur bei der Regierung Assads auf Skepsis und Zurückhaltung. Zu vielen Syrern und Syrerinnen, die zuvor noch nie nach Europa gereist waren und keine Erfahrung mit internationalen Prozessen hatten, musste swisspeace zuerst Vertrauen aufbauen. Zum Beispiel in dem das Institut Treffen in einem Nachbarland Syriens organisierte.

Teilnehmende lernten, sich auf dem internationalen Parkett zu bewegen. Im besten Fall können sie nun ihre Interessen besser einbringen und dafür lobbyieren. Sie haben in Genf die Möglichkeit, UNO-Vertreter zu treffen, die am Mediationsprozess beteiligt sind und können Fragen stellen und Ideen deponieren. Auch internationale Nichtregierungsorganisationen sind da und Vertreter der UNO-Mitgliedstaaten. «Viele Teilnehmende hätten diese Möglichkeiten nie gehabt, wenn wir sie nicht nach Genf eingeladen hätten», sagt Pedulla. «Immer mehr Akteure rufen uns an, die auch mitmachen möchten.»

Aufnahme von zerbombten Häusern, im Vordergrund gehen zwei Männer und steht ein gelbes Auto.
Die Befreiung der ehemaligen IS-«Hauptstadt» Rakka im Oktober 2017 hat einen hohen Preis: Rund 70% der Gebäude gelten als zerstört oder schwer beschädigt. Keystone

Auch zeigen mehr Länder Interesse an einer Zusammenarbeit mit der syrischen Zivilgesellschaft. «Die Aufmerksamkeit der Internationalen Gemeinschaft steigt, die syrische Zivilgesellschaft wird aktiver und differenzierter in ihrem Umgang mit internationalen Stakeholdern. Ich denke, dass einigen der CSSR-Prozess hier geholfen hat», sagt Pedulla.

«Schweiz zeigt sich sehr flexibel»

«Der CSSR hat sich zum Dreh- und Angelpunkt der syrischen Zivilgesellschaft entwickelt», schreibt das Schweizer Aussendepartement (EDA), das swisspeace bisher jährlich mit 370’000 Franken unterstützt hat. In diesem Betrag sind auch Beteiligungen an Reisekosten der teilnehmenden Syrer und Syrerinnen enthalten.

«Die Schweiz hat uns über den finanziellen Aspekt hinaus enorm viel geholfen», sagt Pedulla. Als Gastland zeige sich das Land jeweils sehr flexibel, wenn es darum gehe, Visa auszustellen, Unterkünfte zu organisieren und für Sicherheit zu sorgen.

Ohne «die Grossen» geht nichts

Der CSSR ist ein neuer Ansatz der UNO-Friedenspolitik: Es ist das erste Mal, dass die UNO zivilgesellschaftliche Akteure formell dazu eingeladen hat, sich von Anfang an an einem Mediationsprozess zu beteiligen.

 «Ich wünsche mir für Syrien, dass die Bürgerinnen und Bürger in einem Rechtsstaat leben können, der auf Machtteilung und Partizipation basiert.» Asma

Der sich ständig ändernde und hochgradig politisierte Kontext, in dem dieser Prozess stattfindet, stellt den CSSR und dessen Teilnehmende allerdings vor grosse Herausforderungen. Die Situation der Menschen in Syrien und in den Flüchtlingslagern hat sich kaum verbessert. Angesichts der Dringlichkeit der Arbeit vor Ort stellen sich Teilnehmende deshalb auch Fragen nach dem Sinn weiterer CSSR-Treffen, wie eine swisspeace-Expertin in einem ArtikelExterner Link festhält.

Und Pedulla? Glaubt er noch an eine politische Lösung in Syrien? «Natürlich! Wir müssen daran glauben und alles dafür geben», sagt er laut und mit bitterem Lächeln. «Wir geben nicht auf.» Illusionen macht er sich aber keine: Ohne die internationale Gemeinschaft und die Hauptakteure dieses Krieges geht es nicht. «Die Syrer und Syrerinnen sind erschöpft von diesem schrecklichen Konflikt. Die CSSR-Teilnehmenden möchten eine politische Lösung, damit das syrische Volk in Frieden zusammenleben kann und die Grundrechte aller respektiert werden. Sie machen weiter, und wir sollten auch nicht aufgeben.»

«Am Ende werden wir Syrer und Syrerinnen zusammenleben. Wir müssen uns alle an einen Tisch setzen und einen überregionalen Zukunftsplan zeichnen. Dieser muss die Befürchtungen und den Schmerz aller berücksichtigen. Er muss Syrien in einen Bürger- und Rechtsstaat verwandeln. Und das Fundament für einen endgültigen Frieden in ganz Syrien bilden.» Belal

 *Asma ist ein Pseudonym, Name der Redaktion bekannt

Übersetzung der Korrespondenz mit Belal aus dem Arabischen: Thair Alsaadi

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