Friedensvermittler: «Um Guerillas zu verstehen, muss man Marx lesen»
Jean-Pierre Gontard engagiert sich seit Jahren für den Frieden in Kolumbien. Im Interview blickt er auf seine langjährige Arbeit als Mediator zurück und verrät, welche Lehren er daraus gezogen hat.
Als IKRK-Delegierter war Jean-Pierre Gontard Augenzeuge zahlreicher Konflikte in Afrika und Asien, im Nahen Osten und in Lateinamerika. Während zehn Jahren reiste er insgesamt 35 Mal nach Kolumbien und in umliegende Länder, um zwischen den Guerillas der FARC und ELN und den Regierungen zu vermitteln.
2008 stand Gontard im Zuge der Befreiung der französisch-kolumbianischen Politikerin Ingrid Betancourt, die von der FARC als Geisel gefangen gehalten wurde, in der Kritik. Die kolumbianische Regierung warf der Schweiz und Frankreich vor, die Vermittlungsarbeit manipuliert zu haben, um die Entführer:innen glauben zu lassen, dass Verhandlungen im Gange seien.
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Der kolumbianische Präsident beschuldigte die Mediator:innen, «keine Distanz zur FARC gewahrt zu haben». Am Ende gelang zwar die Befreiungsaktion der kolumbianischen Armee, doch die Falschinformationen brachten die europäischen Gesandten, die sich im Dschungel aufhielten, in Gefahr.
swissinfo.ch: Jean-Pierre Gontard, Vermittler:innen werden oft von beiden Seiten beschuldigt, mit der jeweils anderen unter einer Decke zu stecken. Wie bewältigen Sie diesen Balanceakt?
Jean-Pierre Gontard: Ich wurde mehrmals beschuldigt, parteiisch zu agieren, sogar von Schweizer Politiker:innen. Sie fragten mich in aller Öffentlichkeit, ob nicht selbst ein Marxist sei. Ich hielt diese Frage für unangebracht. Denn wenn ich mit den Taliban verhandeln müsste, wäre es besser, vorher den Koran zu lesen. Warum sollte ich mich also nicht mit marxistischer Literatur befassen, wenn ich mich mit kolumbianischen Guerillas an einen Tisch setze?
Ich habe stets versucht, mit allen Beteiligten zu sprechen, von Vorsitzenden von Arbeitgeberverbänden über Minister:innen bis hin zu den Anführer:innen verschiedener kommunistischen Parteien und Gruppierungen.
Treffen Sie solche Anschuldigungen oder sind sie einfach Teil Ihrer Arbeit?
Nein, es kann wirklich unangenehm werden. Meine Frau arbeitete als Zahnärztin und einige ihrer Patient:innen sagten zu ihr: «Wir wussten nicht, dass Ihr Mann solche Dinge tut und zu Terroristen nach Hause geht». Diese Art von Bemerkungen und Fragen, die sich an meine Familie richten, treffen mich schon.
Wie gelingt eine Mediation? Wie können zwei Konfliktparteien, deren Positionen weit auseinander liegen, zu einer Einigung bewegt werden?
In erster Linie benötigt man viel Geduld. Mit anderen Worten: Jene, die «Express-Mediation» betreiben, sind keine Mediator:innen. Ich glaube, dass man eine solche Rolle nicht erzwingen kann.
Der Mediator oder zumindest die Organisation, der er angehört, muss respektiert werden. Einen Mediator, der allein handelt, gibt es nur bei Schiedsgerichten, nur bei privaten oder finanziellen Angelegenheiten.
Aber ein Mediator für politische Angelegenheiten ist nie allein. Wenn er behauptet, allein oder der Chef zu sein, stimmt das nicht. Man muss also ein Mindestmass an Bescheidenheit zeigen, sonst wird man für einen Blender gehalten, und das ist kontraproduktiv.
Man muss sich auch über den Unterschied zwischen Geheimhaltung und Diskretion im Klaren sein. Das ist ein zentraler Punkt. Es gibt Momente, in denen man offen sprechen muss, weil Geheimniskrämerei beim Gegenüber die Vermutung wecken könnte, dass man etwas zu verbergen hat.
Ein Vertrag, dessen Text geheim gehalten wird, könnte als nachteilig für eine der beiden Verhandlungsparteien oder für die Bevölkerung einer bestimmten Region angesehen werden. Ein sehr geheimes Abkommen ist oft ein schlechtes Abkommen. Eine diskrete, klare Kommunikation am richtigen Ort zur richtigen Zeit kann aber die Erfolgsaussichten erhöhen. In dieser Hinsicht sind auch gute Journalist:innen unverzichtbar.
Wenn Sie zurückblicken, fragen Sie sich oft, was sie anders hätten tun können oder sollen?
Diese Frage müssen wir uns alle stellen, auch wenn wir meist nur kleine Rädchen in einem grossen System sind. In einem internen, mehrere Dutzend Seiten umfassenden Papier über die Friedensbemühungen in Kolumbien habe ich einige Lektionen aufgezeigt. Ganz zentral ist, dass Vertreter:innen der Schweiz beim Kontakt mit Guerillas denselben Respekt zeigen wie bei Gesprächen mit Repräsentant:innen des Staates.
Als die FARC Mitte der 1990er-Jahre Schweizer Vermittler:innen in Bern traf, wurde der FARC-Leiter Raoul Reyes von einem Beamten des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) empfangen.
Zehn Jahre lang erzählte er mir immer wieder: «Als ich zum ersten Mal in die Schweiz kam, wurde ich im Bundeshaus empfangen!» Er wusste nicht, dass das EDA damals Büros im Bundeshaus hatte.
Als wir später in Genf eine gemeinsame Delegation der kolumbianischen Regierung und der FARC empfingen, brachte die Schweiz sie alle im Hotel La Réserve unter, wo der Schah von Iran manchmal seine Ferien verbrachte.
Die FARC-Führer:innen sagten zu mir: «Wir haben gesehen, dass es hier einen tollen Swimmingpool gibt, aber leider ist er nicht geöffnet, wenn wir um 4 oder 5 Uhr morgens wach sind.» Ich fragte ihn, ob wir das Bad vorher öffnen lassen sollen. Er dankte mir und wir sorgten dafür, dass das Hotelpersonal den Pool speziell für die Guerillas früher öffneten.
In einem anderen Fall bat mich ein Vertreter der ELN, der erfahren hatte, dass ein hochrangiges FARC-Mitglied zu Gesprächen nach Genf gekommen war, um die Erlaubnis, diese Person diskret treffen zu können. Die beiden Guerillagruppen befanden sich in einem ernsten Zwist, der beigelegt werden musste. Sie trafen sich schliesslich bei Tagesanbruch in meinem Büro, während ich nicht anwesend war, und sie konnten ihre Differenzen ausräumen. Das Treffen wurde geheim gehalten, bis die Kontrahenten es in gegenseitigem Einvernehmen bekanntgaben.
Was lässt sich aus diesen Erfahrungen für die aktuellen Krisen ableiten?
Meiner Ansicht nach ist der Respekt vor den Kämpfer:innen, wer immer sie auch sind, eine Grundvoraussetzung für jede Verhandlung. Da die kolumbianische Regierung gerade Gespräche mit verschiedenen Gruppen über einen Waffenstillstand aufgenommen hat, gilt dies mehr denn je.
Ob nun Guerillas, Paramilitärs oder sogar Narcos – viele von ihnen haben sich ihr Schicksal nicht ausgesucht. Die Herausforderung ist es, ihre Botschaften zu verstehen und herauszufinden, wie man sie dazu bewegen könnte, ihre Waffen niederzulegen.
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