Sandinistische Revolution: Erinnerungen der Schweizer Front
Nach dem Sieg über Somoza erlebte Nicaragua eine internationalistische Bewegung wie sie seit dem spanischen Bürgerkrieg nicht mehr zu sehen gewesen war. Mehr als 800 Schweizer nahmen am sandinistischen Wiederaufbau des nach fast 50 Jahren Diktatur ausgebluteten Landes teil. Drei Jahrzehnte später gedenkt eine helvetische Brigade der Gefallenen.
«Eine solche Brigade ist wichtig, um zu bezeugen, dass Nicaragua und Lateinamerika Widerstand leisten», urteilt der Kinderarzt Bernard Borel. Er war nicht nur in den Kantonen Neuenburg und Waadt tätig, sondern hatte sich auch als Notfall-Arzt inBluefields, Managua und Matagalpa engagiert.
Sehnen Sie sich nach diesen zehn Jahren in Nicaragua zurück? «Nein, aber ich spüre noch immer diese Kraft, um trotz allem weiterhin an eine bessere Welt zu glauben», antwortet er. Der Arzt ging 1980 kurz nach dem Sieg der Sandinistischen Revolution nach Nicaragua.
Dieselbe Energie verspüren auch seine Partnerin Marion Held, die an den Bemühungen der Sandinisten, Kultur unter das Volk zu bringen, teilnahm sowie die Brigadisten Roland Sidler und Charlotte Krebs. Letztere leiteten die Partnerschaft zwischen San Marcos (Nicaragua) und Biel (Schweiz) in den Weg.
Vor ihrer Abreise nach Nicaragua zu den Gedenkfeiern «30 Jahre, Ehrung und Solidarität» teilen die zwei Paare mit swissinfo.ch ihre Erinnerungen an jene Jahre der «Cheles» (Internationalisten) in einem Land, das zum Wiederaufbau den Pflug in die Hand nahm, aber nicht auf das Gewehr auf der Schulter zur Verteidugung gegen die Anschläge der Gegenrevolution (Contras) «made in USA» verzichtete.
Pluralistische Revolution
«Mich faszinierte die Idee, in einem Land mitzuarbeiten, wo noch alles möglich war», erinnert sich Roland Sidler. «Es gab eine wirklich partizipative Demokratie. Die Regierung, das Volk, Intellektuelle, Ideologen, Priester, alle arbeiteten Hand in Hand, um die Bevölkerung zu alphabetisieren, ihr ein Dach über dem Kopf und Gesundheitsversorgung zu garantieren und eine Agrarreform in Gang zu setzen».
Der aus Courtelary (Kanton Bern) stammende ehemalige Mathematik- und Physiklehrer kehrte als Schüler ins Klassenzimmer zurück, um bei der Spanischen Katholischen Mission einen Schnellkurs für Spanisch zu absolvieren. 1986 reiste er mit einer Gruppe von 10 Linken nach Managua. Alle wollten sie sich wie er der sandinistischen Revolution anschliessen, um dem Volk sein Recht auf ein würdiges Leben zurückzugeben.
«Wir halfen beim Kaffeepflücken mit und sahen zum ersten Mal eine Kaffeeplantage. Sie sagten uns: Pflückt die roten Beeren´, doch einer von uns war farbenblind…», scherzt Sidler und erzählt er eine weitere Anekdote: «Es gab einen Leistungswettbewerb, um den Ernterekord zu schlagen. Eine Nicaraguanerin pflückte mehr Beeren als wir zehn zusammen.»
Später beteiligte sich der auch als Gewerkschaftler und Schreiner tätige Roland am Bau eines Gemeinschaftszentrums in San Marcos und an der Gründung der Partnerschaft zwischen dieser Stadt und Biel.
Dauerhafte Bindungen
«Wir wollten dauerhafte Bindungen schaffen», betont Charlotte. «Es gab auch andere Initiativen, doch viele versandeten nach der Wahlniederlage der Sandinisten 1990. Doch wir machten weiter. Dort waren diese Leute, die wir kannten und sich weiter um den Wiederaufbau des Landes bemühten. In dieser Zeit der Unsicherheit benötigten sie unsere Unterstützung mehr denn je».
Schweizer Brigade
Die Brigada, die diesen Monat nach Nicaragua reist, besteht aus ca. 50 Schweizer Bürgerinnen und Bürgern, Mitglieder von Vereinen, Partnerschaften, Gewerkschaften und ONG.
Das Ziel: Würdigung der Gefallenen während der Sandinistischen Revolution und der Offensive der Contras, sowohl schweizerischer und anderer europäischer Internationalisten als auch der nicaraguanischen Opfer.
Die Würdigung findet zum Anlass des 30. Jahrestag der Ermordung des Schweizers Maurice Deumierre und 5 nicaraguanischer Kleinbauern (16.2.) und dessen Landsmann Yvan Leyvraz, des Franzosen Joël Fieux, des Deutschen Berndt Koberstein und der einheimischen Techniker William Blandón und Mario Acevedo (28.7.) durch die Contras statt.
Charlotte und Roland lebten mit einer Familie und waren schliesslich Teil von ihr. Die Genfer Sozialassistentin lernte, Wäsche zu waschen, die sie eingeseift an die Sonne hängte; ein Erdbeben zu erkennen und zu verstehen, dass die Nicaraguaner jeden Tag intensiv leben, da der kommende nur eine blosse Möglichkeit war.
Sozialisierung der Kultur
Marion und Bernard kamen 1980, ein Jahr nach dem Sieg der Sandinisten, als Mitglieder der NGO GVOM von Neuenburg nach Managua. Er mit dem Arzttitel und sie mit ihrem Diplom der Theaterschule Jacques Lecoq. Nach kurzer Zeit arbeitete der Arzt im Gesundheits- und seine Frau im Kulturministerium.
Marion war mit der Ausbildung von Monitoren und der Bewahrung und Verbreitung der nationalen Kultur beauftragt.
«Vor der Revolution gab es nur das Ensemble des Nationaltheaters für die Reichen», erzählt Marion. Nach der Machtübernahme der Sandinisten «entstanden viele Theatergruppen mit Frauen, Soldaten und Studenten. Alle wollten Theater machen, aber auch Gedichte schreiben und tanzen.»
Die Bevölkerung teilte ihre Arbeit bei der Kaffee- und Baumwollernte mit künstlerischen Aktivitäten, doch das Wiederauflammen der Offensiven der Contras führte zur Auflösung vieler Gruppen, da die Jungen an die Front eingezogen wurden.
So gründete Marion das Kindertheater Triquitraque, das in Pärken und Quartieren auftrat. Sie arbeitete auch mit Blinden und entwickelte dazu eine eigene Methodologie, damit diese als Schauspieler auf der Bühne spielen konnten. Sie erinnert sich an ein Stück, wo ein Schauspieler mit seinem Gejammer beim Publikum Heiterkeit auslöste: «Oh je, dieses Quartier ist so schlecht beleuchtet. Man sieht überhaupt nichts.»
Diese Feststimmung und die Kritikfähigkeit der «Nicas» begeisterten sie. «Es ist etwas, was ich sonst nirgendwo erlebt habe.» Marion glaubt, dass ihre Erfahrungen in Nicaragua «ein unwahrscheinliches Glück» waren.
Schule fürs Leben
Ihr Mann teilt diese Überzeugung: «Für mich war es so ausschlaggebend, dass es alles beeinflusst hat, was ich seither gemacht habe oder zu machen versuchte». Der Arzt und Mitglied der PdA, Bernard Borel, spezialisierte sich in Managua und Lausanne auf Pädiatrie. In seiner Praxis in Aigle (Waadt) fördert er soziale Pädiatrie, die seinen Erfahrungen als Gesundheitsbrigadist gar nicht so fremd ist.
«Es war grossartig, die soziale Mobilisierung während der Impf- oder Desinfizierungskampagnen zur Vorbeugung von Malaria und Dengue zu erleben». Da es wenig Mittel gab, die Bedürfnisse aber enorm waren, wurden Gemeindemonitoren ausgebildet, um die am häufigsten auftretenden Krankheiten diagnostizieren und behandeln zu können. Dies half sehr, Probleme der Primärbehandlung zu meistern.
Er erinnert sich auch an Arztbesuche in Schulen, im Hinterhof von Kirchen und Häusern und an seinen liebevollen Übernamen «Doktor Pille», da er Spritzen vermied. Oder an sein anfängliches Erstaunen, wenn sich Patienten über «Gehirnschmerzen» oder «Bauchversteifung» beschwerten. Auch an die Grosszügigkeit dieser Menschen, die ihn mit Früchten beschenkten.
«In zehn Jahren wurde die Kindersterblichkeit auf die Hälfte reduziert. Das war grossartig. Der Lebensstandard der Bevölkerung hat sich dabei nicht gross verändert. Zu Beginn der Revolution waren sie arm und zehn Jahre danach waren sie noch immer arm, doch sie hatten bessere Kenntnisse von Kinderpflege und in der Nähe Leute, die sie dabei unterstützten.»
Nicaragua heute
Bernard Morel:
«Es ist nicht mehr die Revolution, von welcher wir mit 25 Jahren träumten, doch es gibt eine Regierung, die der Bevölkerung besser dient, als es die Opposition tat. Mit dem inneren Krieg (Kontrarevolution) wurden der sandinistischen Revolution die Flügel gestutzt. 1990 stimmte das Volk gegen den FSLN (Sandinistische Front für Nationale Befreiung), weil es die einzige Alternative zur Beendigung des Krieges war. Um 2007 den Wahlsieg zu schaffen, musste der FSLN Konzessionen eingehen, z.B. auf Abtreibungen verzichten».
Roland Sidler:
«Heute ist die Regierung Daniel Ortegas sehr verschieden von derjenigen der 1980er-Jahre. Es gibt keine Volksbeteiligung mehr, alles entscheiden die Kuppeln. Doch im Vergleich zu den neoliberalen Regierungen zwischen 1990 – 2007 hat sich die Lage der Bevölkerung verbessert».
Charlotte Krebs:
«Das Abtreibungsverbot ist bedauerlich».
Glauben Sie auch an den Inhalt der Redewendung, wonach «trotz allem eine bessere Welt möglich ist».
(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)
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