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Gaza gleich gelähmt wie der Friedensprozess

15 Januar 2010: Die europäischen Parlamentarier werden in Gaza empfangen. Reuters

Fünfzig europäische Parlamentarier, darunter drei aus der Schweiz, bemängeln bei einem Besuch die Abriegelung des Gazastreifens. Der US-Experte Robert Malley begrüsst dies und verlangt, den vor 16 Jahren lancierten Friedensprozess ernsthaft zu hinterfragen.

Ein Jahr nach der israelischen Offensive auf Gaza haben sich drei Schweizer Parlamentarier mit fünfzig europäischen Abgeordneten im seit Juni 2007 von der islamistischen Hamas-Bewegung kontrollierten Territorium getroffen.

Nach dem Besuch forderten die Parlamentarier das Ende der von Israel und Ägypten praktizierten Blockade des Gazastreifens.

Ein Schritt, den Nichtregierungs-Organisationen (NGO) wie etwa Amnesty International schon seit einiger Zeit fordern.

«Israel erklärt, Gaza wegen der Angriffe von bewaffneten Gruppen aus dem Gazastreifen auf den Süden Israels seit Juni 2007 abgeriegelt zu haben», schreibt die englische NGO. «Tatsache ist aber, dass diese Blockade statt der bewaffneten Gruppen die gesamte Zivilbevölkerung straft, indem Lieferungen von Lebensmitteln, Medikamenten, Schul- und Baumaterial eingeschränkt werden.»

Gelähmte Bevölkerung

Die Operation der israelischen Armee vom 27. Dezember 2008 bis 18. Januar 2009 habe einzig die extreme Isolierung und Armut in Gaza verstärkt, wo fast 1,5 Millionen Menschen leben.

Die Folge, laut Amnesty: «Die Blockade paralysiert die Bevölkerung, von der mehr als die Hälfte Kinder sind, in praktisch allen Bereichen des täglichen Lebens. Der Isolierung und dem Leiden in Gaza, darf nicht länger untätig zugesehen werden.»

Eine Einschätzung, die auch die Schweizer Parlamentarier teilen: «Wir werden von der Schweiz verlangen, dass sie sich engagiert und andere Länder anregen, einen Prozess anzustossen, der dieser Blockade ein Ende setzt», erklärte Josef Zisyadis von der Alternativen Linken.

«Nur ein solcher Stopp erlaubt den Wiederaufbau von Gaza.» Zisyadis war begleitet worden vom Sozialdemokraten Jean-Claude Rielle und dem Grünen Geri Müller.

Was bringt es?

Yves Besson, ein ehemaliger Schweizer Diplomat im Nahen Osten, bezweifelt ganz klar, dass eine derartige Mobilisierung eine Wirkung haben könnte. «Der ganze Konflikt dauert nun schon 30 Jahre. Diese Aktion wird nichts bringen. Ich habe während meiner Zeit von 1990 und 1992 als Direktor der UNWRA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten) in Jerusalem genügend Parlamentarier getroffen.»

Ein Zweifel, den auch Zisyadis teilt: «Ich stelle mir jedes Mal diese Frage, bevor ich hingehe. Doch jedes Mal, wenn ich zurückkehre, habe ich die tiefe Überzeugung, dass es unerlässlich ist, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner von Gaza und die Palästinenser allgemein nicht alleingelassen fühlen dürfen.»

Und der Parlamentarier ergänzt: Die Verantwortlichen und die Einwohner, die wir treffen, sagen es uns jedes Mal: Unsere Präsenz ist ein frischer Windstoss für sie.»

Der Waadtländer Chansonnier Michel Bühler begleitete die Parlamentarier. «Wir konnten ein kleines Konzert in einer Musikschule organisieren. Die Schüler und ich haben einige Lieder interpretiert. Einmal mehr war es sehr wichtig, ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Ihre grosse Sorge ist, dass sie von der ganzen Welt vergessen werden.»

Zisyadis unterstreicht einen weiteren Dienst, den die besuchenden Parlamentarier den eingeschlossenen Menschen erweisen: «Ich wage mir nicht vorzustellen, was geschehen würde, wenn wir solche Aktionen nicht durchführen würden. Diese Solidaritätsreisen erzeugen Druck auf die israelischen und ägyptischen Behörden, die für die Sperrung verantwortlich sind.»

Durchfahrt erzwingen

Eine positive Einschätzung, die Robert Malley aus Washington bestätigt: «Alles, was die Welt an die Realität der Situation in Gaza erinnert – ein Territorium, das von einem humanitären Skandal und politischer Blindheit betroffen ist -, ist willkommen», erklärt der Verantwortliche des Nahost-Programms des in Brüssel domizilierten Instituts International Crisis Group.

«Es ist daher eine gute Idee, dass Parlamentarier die Durchfahrt nach Gaza erzwingen und auf die Notwendigkeit pochen, zu handeln.»

Denn laut dem ehemaligen Nahost-Berater von Präsident Clinton steckt der Konflikt in der Sackgasse: «Es ist nun schon ein Jahr her, seit der Konflikt zu Ende ist. Keiner der direkten oder tieferen Gründe für die Konfrontation wurde angepackt. Die Blockade bleibt bestehen», gibt er zu bedenken.

«Die Hamas ist nicht in der Lage, Gaza zu regieren. Deshalb ist sie versucht, andere Möglichkeiten zu suchen. Israel bleibt beunruhigt, weil eine grosse Menge Waffen nach Gaza gelangen. Auch ein Gefangenenaustausch hat immer noch nicht stattgefunden. Und schliesslich gibt es kein Waffenstillstands-Abkommen zwischen den beiden Parteien.»

Und Malley insistiert: «Die Fortführung der Blockade gibt der Unzufriedenheit der Bevölkerung weitere Nahrung. Aber sie verstärkt auch den Einfluss der Hamas in Gaza. Mit dem Versuch, die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen auszutrocknen, fällt das Monopol in die Hände jener, die man schwächen will – die Hamas.»

Doch auch wenn sich die Bevölkerung politisch gegen die Hamas stellen würde, ergänzt der US-Wissenschafter, «hat sie nicht die Mittel, diese Unzufriedenheit in eine politische Bewegung zu überführen. Derweil vertieft die Hamas ihren Einfluss.»

Malley begrüsst in diesem Zusammenhang die Schweizer Diplomatie und deren Wunsch, den Dialog mit allen Beteiligten aufrechtzuerhalten, auch mit der Hamas, die auf der europäischen Liste der terroristischen Organisationen steht.

Den Rahmen ändern

Die Sackgasse, in die man mit Gaza gelangt ist, stehe stellvertretend für den gesamten Friedensprozess zwischen Israel und Palästina, sagt Robert Malley: «In den USA und in Europa gibt es einen starken Willen, die Friedensverhandlungen wieder aufzunehmen. Doch was bringt es, antworten die wichtigsten Interessierten. Israelis und Palästinenser sind tatsächlich desillusioniert über die Methode der Verhandlungen zwischen den beiden Parteien wie auch über deren Ziel, das heisst, ein Schlussdokument, das alle Probleme löst.»

Und der Nahost-Experte präzisiert: «Heute erwarten die Palästinenser, dass der Frieden von der internationalen Gemeinschaft durchgesetzt werden soll. Israel seinerseits sagt, dass ein umfassender Friede nicht erreicht werden kann und man deshalb etappenweise in diese Richtung gehen soll. Diese Erwartungen stehen sich diametral gegenüber. Doch der Ansatz ist der gleiche: Es braucht eine neue Methode, neue Instrumente und Ziele. Denn ohne die wird ein Prozess wiederholt, der für beide Parteien bereits sehr teuer geworden ist.»

Frédéric Burnand, Genf, swissinfo.ch
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

Diese Woche haben 11 Menschenrechts-Organisationen von den palästinensischen Behörden im Gazastreifen und in Westjordanien eine Untersuchung über Behauptungen verlangt,

Palästinenser hätten während der israelischen Offensive vor einem Jahr in Gaza Kriegsverbrechen verübt.

Die 11 Organisationen haben einen identischen Brief an den Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland, Mahmoud Abbas, und an den Premierminister der islamistischen Hamas-Bewegung im Gazastreifen, Ismail Haniyeh, geschickt.

In diesen Briefen verlangen die Organisationen, die Empfehlungen der Kommission Goldstone zu befolgen, die von Israel verübte Kriegsverbrechen wie auch solche der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen im Gazastreifen aufdeckte.

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