Hat die UNO die Flüchtlingsdebatte in Europa verloren?
Während rechtspopulistische Regierungen in Europa ihrer Bevölkerung weismachen wollen, dank Härte die "Migrationskrise" gelöst zu haben, versuchen weiterhin tausende Hoffnungslose übers Mittelmeer zu flüchten. Jeder Dritte stirbt dabei. Kann das UNO-Hochkommissariat UNHCRExterner Link, das für diese Flüchtlinge zuständig wäre, auf politischer Ebene nicht mehr tun, als über diese Dramen zu berichten? Gedanken einer BBC-Korrespondentin in Genf.
Wieder einmal sitzen wir Journalisten im Raum III des Palais des Nations, und wieder einmal wird uns ein Papier ausgehändigt, auf dem Statistiken ein fast langweiliges Zeugnis für ein Horrorszenario ablegen, an dem keine Regierung interessiert zu sein scheint.
«Etwa 65 Menschen sind ertrunken, nachdem ihr Boot an diesem Morgen rund 75 Seemeilen vor der Küste Tunesiens gesunken ist», heisst es in der Erklärung des UNHCR. «Es ist einer der schlimmsten Vorfälle im Mittelmeerraum seit Monaten», teilt die UN-Flüchtlingsorganisation mit.
Wahrscheinlich wird die Identität der Menschen, die in der ersten Maiwoche gestorben sind, nie jemand herausfinden. Ihre Familien in Nigeria, Gambia, Syrien oder im Irak werden womöglich auch nie eine Bestätigung für ihr trauriges Schicksal erhalten. Stattdessen werden sie im Laufe der Jahre vergeblich auf eine Nachricht von ihrem Sohn, ihrer Tochter, der Mutter oder dem Ehemann warten; den Menschen, die sie einst mit so vielen Hoffnungen und Ängsten nach Europa geschickt hatten.
Anders als 2015, im Jahr der sogenannten «Migrationskrise» in Europa, nehmen wir zurzeit nicht wahr, wie gross die Massen an Heimatlosen sind, die das Mittelmeer überqueren. Ein Grund dafür ist der Pakt, den die EU mit der Türkei geschlossen hat, um Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan in der Türkei zurückzuhalten. Die Balkanroute und der Seeweg von der Türkei zu den griechischen Inseln, bei deren Überquerung der dreijährige Alan Kurdi (Aylan) verstarb, sind jetzt ruhiger geworden.
Weder Suche noch Rettung
Ein weiterer Grund ist, dass sich Europa zunehmend darauf konzentriert, Menschen abzuweisen, anstatt sie zu retten. Italien hat Ende 2014 beschlossen, die Seenotrettungsaktion Mare Nostrum einzustellen, nachdem andere EU-Mitgliedstaaten die finanzielle Unterstützung abgelehnt hatten. Viele, darunter auch Grossbritannien, gaben an, die Operation sei ein «Pull-Faktor»: Immer mehr Menschen würden so versuchen, die Grenze zu überschreiten, weil sie wüssten, dass sie gerettet würden.
Vergebens wendeten Hilfsorganisationen wie die UNHCR, die Internationale Organisation für Migration (IOM) oder das Rote Kreuz ein, dass verzweifelte Menschen, die um ihr Leben fürchten, weiterhin fliehen und ihr Leben auf untauglichen Booten im Mittelmeer riskieren würden.
Nach viereinhalb Jahren und tausenden Todesfällen im Mittelmeerraum ist es den Hilfsorganisationen immer noch nicht gelungen, dieses Argument zu entkräften. Vor den Wahlen zum Europäischen Parlament, die am vergangenen Sonntag stattfanden, hörten wir politische Kommentatoren, die darauf hinwiesen, dass der Rechtspopulismus zunehmen würde. Erstaunt vernahmen wir auch, wie Politiker und Analysten sagten, dass die Themen Einwanderung und Asylwesen bei diesen Wahlen keine grosse Rolle spielen. Diese Aussage bestätigte sich am Wochenende: Als klarer Sieger ging der Klimawandel hervor.
Warum ist das so? Gibt es weniger Konflikte, vor denen Menschen fliehen? Nein. Gibt es weniger Flüchtlinge und Vertriebene? Nein. Gibt es weniger Verfolgung von politischen, religiösen oder ethnischen Minderheiten? Nein.
Aus den Augen, aus dem Sinn
Der Hauptgrund dafür, dass die Einwanderung auf keiner politischen Agenda steht, ist, dass Europa seine Türen gewissermassen geschlossen hat. Aus den Augen, aus dem Sinn, mag eine zynische politische Taktik sein, aber sie hat nachweislich Erfolge erzielt.
Anstatt den Wählern zu versichern, dass Europa, obwohl es die Einwanderung unter Kontrolle halten will, immer noch bereit ist, den vor Krieg und Verfolgung flüchtenden Menschen zu helfen (gemäss ihren internationalen Verpflichtungen), scheinen viele europäische Politiker diese Tür noch fester verschliessen zu wollen. Es scheint, dass Stimmen leicht gewonnen werden können, wenn man Ängste vor verstärkter Einwanderung schürt, anstatt an die Menschen und die Solidarität der Wähler in einigen der reichsten und friedlichsten Nationen der Welt zu appellieren.
Und so wird Viktor Orban von rechtsgerichteten Parteien gefeiert, die sich europaweit für seine harte Haltung gegenüber Asylbewerbern in Ungarn einsetzen. Eine Haltung, wie ein UN-Bericht jüngst enthüllte, die dazu geführt hatte, dass Geflüchteten in seinem Land das Essen verweigert wurde.
In Italien herrscht eine ähnliche Stimmungslage: So denkt der stellvertretende Ministerpräsident Matteo Salvini, dass seine Strategie, Migrantenboote nach Nordafrika zurückzudrängen und die Schiffsbesatzung von NGOs zu büssen, wenn sie Flüchtenden helfen, Wählerstimmen bringt.
Kurzsichtige Ansichten
Während ich diesen Text schreibe, erscheint eine (weitere) Stellungnahme von UN-Menschenrechtsexperten zu Italien. Die italienische Politik sei «irreführend und stehe nicht im Einklang mit dem allgemeinen Völkerrecht und dem internationalen Menschenrechtsgesetz», steht darin. «Stattdessen tragen restriktive Migrationsstrategien dazu bei, die Migranten in eine missliche Lage zu bringen und den Menschenhandel zu verstärken.»
Die Folge einer solchen Politik sei, dass «die Menschenrechte von Migranten, einschliesslich Asylbewerbern, sowie Opfern von Folter und von Menschenhandel, ernsthaft beschnitten werden».
Ob die Führung Italiens das zur Kenntnis nehmen wird? Sie sollte es zumindest; immerhin ist der Staat stolzer Unterzeichner mehrerer Konventionen, einschliesslich der UN-Flüchtlingskonvention und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Doch diese internationalen Verpflichtungen werden von italienischen Politikern bestenfalls ignoriert, im schlimmsten Fall offen verachtet und bekämpft.
Es ist für Asylsuchende und Migranten immer schwieriger geworden, nach Europa zu gelangen. Zudem werden all jene, die es schaffen, sich dem Kontinent zu nähern, zurück nach Libyen gedrängt, einem Land, das sich in gewaltsamen Unruhen befindet. UN-Berichte zeigen, dass Flüchtlinge dort schrecklichen Risiken ausgesetzt sind: Inhaftierung, Folter, Versklavung, Vergewaltigung und Mord.
Es ist schwierig vorherzusagen, wie es der UNO gelingen kann, diese Debatte wieder in den Fokus zu rücken. Nur wenige Politiker sind mutig genug, sich für Flüchtlinge einzusetzen. Von ihren politischen Gegnern werden sie schnell und wirksam beschuldigt, sie hätten zu nachlässig gehandelt.
Menschliches Treibgut
Es gibt aber ein Gegenargument, das häufiger gehört wird und das möglicherweise zunehmend Anklang finden wird: Ohne Unterstützung für Konfliktländer und für diejenigen, die vor ihnen fliehen, besteht die Gefahr, dass der Kreislauf aus Krieg und Verzweiflung fortgesetzt wird. Konflikte werden nicht gelöst und ein nachhaltiger Frieden kann nicht entstehen, so die Überlegung, wenn wir Generationen einem Leben der Verzweiflung überlassen. Man denke an Syrien.
Vielleicht fruchtet dieser Gedanke ja. Es gibt sicherlich Anzeichen in Europa, einschliesslich der Schweiz, dass die kurzfristige populistische Politik nicht mehr so beliebt ist wie noch vor ein, zwei Jahren. Vermehrter Einsatz für langfristige Klimaschutzmassnahmen oder für eine bessere Versorgung von älteren Menschen zeugt davon.
Eine verlässliche Unterstützung für Flüchtlinge und Migranten scheint jedoch noch weit entfernt zu sein. Das hat auch mit der Berichterstattung zu tun. In vielen Medien wird über die Migranten auf dem Meer berichtet, als wären sie lediglich Treib- oder Strandgut, keine Menschen. Das macht es natürlich einfacher, sie an Orte wie Libyen zurückzuschicken. Aber Verzweiflung wird Menschen immer wieder dazu zwingen zu fliehen. Und gemäss Statistik stirbt jeder Dritte, der übers Mittelmeer Richtung Europa flüchtet.
(Übertragung aus dem Emglischen: Christoph Kummer)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch