Das IKRK, ein Vehikel von Schweizer Interessen?
Die Schweiz und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sind seit jeher eng verbunden. Ein vom Bund in Auftrag gegebenes Gutachten kritisiert nun diese Symbiose.
Wie eng sind die Schweiz und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) eigentlich miteinander verknüpft? Ein im Juli fertiggestellter Bericht, in Auftrag gegeben vom Schweizerischen Aussendepartement, kommt zu einem ernüchternden Befund: Die enge Verbundenheit der Schweiz mit dem IKRK verhindere offene Diskussionen, und das Schweizer Aussendepartement werde von aussenstehenden Akteuren weitgehend als Vollzugsinstanz der IKRK-Positionen wahrgenommen.
Konkret wird im Bericht, den die Sonntagszeitung am Wochenende bekannt gemacht hat, kritisiert, dass der jährliche Sitzbeitrag des Bundes über 80 Millionen Franken mit der pauschalen Erwartung ans IKRK verbunden sei, Genf als Drehscheibe der internationalen Diplomatie zu fördern. Die Publikation sorgte für Aufsehen. Doch wer einen Blick in die Geschichte des IKRK wirft, stellt fest: Es ist eine fast zwingende Folge einer der Gründungsideen des IKRK. Denn schon ganz von Beginn weg stand das IKRK im Spannungsfeld zwischen humanitären, wirtschaftlichen und politischen Interessen der Schweiz. Diese Verstrickung besteht bis heute: Grossindustrie, Schweizer Politik und humanitäre Organisation gehen Hand in Hand; sie treten zusammen auf und ziehen am selben Strick.
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Finanzielle Unterstützung durch Private
Ein Beispiel: Peter Maurer ist sowohl ehemaliger Staatssekretär sowie Präsident des IKRK und Mitglied des Stiftungsrats des Weltwirtschaftsforums. Ein anderes: In einer BroschüreExterner Link, die im November 2016 publiziert wurde und sich an spendende Unternehmen richtet, beruft sich der IKRK-Präsident Maurer auf die «konstruktiven Beziehungen, die unsere Institution seit der Gründung vor 150 Jahren mit dem Privatsektor pflegt. Ob es sich um die finanzielle Unterstützung der ersten Stunde durch Genfer Banken und Private oder zum Beispiel um die Errichtung der Corporate Support GroupExterner Link handelt, das IKRK schätzt und pflegt die Beziehungen, die es mit dem Privatsektor geknüpft hat. Seit rund zehn Jahren hat sich diese Bindung verstärkt und beträchtlich entwickelt».
Rüstungsindustrie trifft auf IKRK
«Der Privatsektor mit seinem Reichtum an Ideen, Erfahrungen und Ressourcen (…) ist entscheidend geworden, damit das IKRK seine Aufgaben besser wahrnehmen, die Personen, die Schutz und Hilfe brauchen, erreichen und effizient und angemessen auf deren Bedürfnisse eingehen kann», lässt sich Maurer zitieren. «Umgekehrt bietet die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Sektoren, die sich auf sensiblem Gebiet abspielt, unseren Partnern des Privatsektors Möglichkeiten und neue Märkte, die es ihnen erlauben, als erste ihre Produkte und Dienstleistungen anzubieten. Allerdings bleibt noch viel zu tun.»
In der gleichen Broschüre hält das IKRK fest, dass es seit 2005 am Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos teilnehme und der IKRK-Präsident seit November 2014 Mitglied des Stiftungsrats sei.
Unter den Mitgliedern und Partnern des WEF befinden sich einige SchwergewichteExterner Link der Rüstungsindustrie, wie die europäische Firma Airbus Defence and Space, die britische BAE Systems oder die amerikanische Lockheed Martin.
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Am Anfang ging es nur um Geld und Waren
Politische Verstrickung
Das IKRK ist seit seiner Gründung mit der Politik und Wirtschaft der Schweiz verbundenExterner Link. Die Führungskräfte zirkulieren regelmässig zwischen der Eidgenossenschaft, den Verwaltungsräten der Unternehmen und der Direktion des IKRK.
«Das IKRK wurde in engem und dauerhaftem Kontakt mit der Eidgenossenschaft geschaffen und entwickelt. Die Schweiz, die seit 1864 Depositärstaat der Genfer Konventionen und deren Zusatzprotokollen ist, organisiert diplomatische Konferenzen mit dem Zweck, das internationale humanitäre Recht auszubauen, so dass die Neutralität des IKRK und jene der Eidgenossenschaft zunehmend verschmelzen. Zwar haben beide Seiten von dieser Verbundenheit profitiert, aber die Schweiz scheint der Hauptnutzniesser zu sein», schreiben Thomas David und Bouda Etemad in einem Artikel von 1998, in dem sie den Begriff des Imperialismus nach Schweizer Manier hinterfragen.
Ein DokumentExterner Link des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), das damals geheim war, kommt zum gleichen Schluss. In ihrer Argumentation, mit welcher die Regierung ermuntert werden sollte, mehr Geld für das IKRK zu sprechen, schrieb eine Sektionschefin des EDA am 30. Januar 1965: «Dass sich das IKRK in der ganzen Welt als unabhängig und frei von allen Verpflichtungen gegenüber irgendwelcher Regierung, sogar gegenüber der schweizerischen, erklären will, hängt damit zusammen, dass sie diese notwendige Unabhängigkeit jederzeit geltend machen kann, um sich einer möglichen ausländischen Einflussnahme zu entziehen.
Aber das IKRK hat gegenüber der Schweizer Regierung, die immer im Komitee vertreten war, nie Geheimnisse gehütet. (…) Für gewisse ausländische Beobachter ist diese Bindung so offensichtlich, genau wie das Umgekehrte – das IKRK ist ein Instrument der Schweizer Politik –, dass sich gewisse grosse Staaten nicht an der finanziellen Unterstützung des IKRK beteiligen.»
IKRK blieb untätig gegenüber Shoah
Warum hat das IKRK nichts gegen die Judenverfolgung durch das Nazi-Regime während des Zweiten Weltkriegs getan? Diese Frage wurde in verschiedenen historischen Studien aufgeworfen. 2006 erklärte sich das IKRK bereit, einen Teil seines Archivs offenzulegen und offiziellExterner Link ein «Versagen» zuzugeben.
Der Präsident des IKRK, Max HuberExterner Link, verkörperte während dieser dramatischen Zeit selber die Verbindung zwischen der Eidgenossenschaft, der Grossindustrie und dem IKRK. Von 1928 bis 1944 war er Präsident der humanitären Organisation und eifriger Verfechter einer Politik der grösstmöglichen Zurückhaltung gegenüber dem Dritten Reich. In der gleichen Zeit präsidierte er den Verwaltungsrat der Maschinenfabrik Oerlikon (1921-1944) und der Aluminium Industrie AG (1929-1941), die im grossen Stil von der militärischen Aufrüstung Nazi-Deutschlands profitierten. (Vgl. die AusgabeExterner Link 203 der Revue d’histoire de la Shoah, die den Neutralen Europas gegenüber dem Genozid gewidmet ist).
Gewiss: Es war eine ausserordentlich dramatische Zeit in Europa, und die Schweiz, eingekesselt von den Achsenmächten, hatte sehr engen Spielraum. Aber es ist nicht das einzige Mal, dass die Nähe des IKRK zu politischen und wirtschaftlichen Führungsleuten der Schweiz der humanitären Organisation Probleme beschert hat. Auch während des BiafraExterner Link-Kriegs (1967-1970) war dies der Fall. Damals wurde das IKRK beschuldigt,Externer Link der «Service après-vente» von Bührle, dem Schweizer Rüstungsunternehmen zu sein. Die Episode wurde damals als die schlimmste in der Geschichte des IKRK betrachtet.
Während Regierung und Wirtschaft stark von der Nähe zum IKRK profitiert haben, ist die humanitäre Organisation in gewissen Zeiten ihrer Geschichte grosse Risiken eingegangen in Bezug auf ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, die zu ihren wichtigsten GrundsätzenExterner Link gehören. Wie eng sind die Schweiz und das IKRK eigentlich miteinander verknüpft? Die Frage könnte auch heissen: Wie unabhängig kann das IKRK sich eigentlich noch nennen?
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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