Warum eine Politikerin all die Flüche, die sie erhält, im Bundeshaus verlas
Die sozialdemokratische Nationalrätin Ada Marra sorgte letzte Woche im Schweizer Parlament für Aufsehen, als sie eine lange Liste von Beleidigungen vorlas, denen sie regelmässig ausgesetzt ist. Sie hofft, dass mit einem weiblicheren Parlament eine andere Kultur aufkommt.
Für Schweizer Politikerinnen und Politiker sind soziale Netzwerke ein Segen, aber auch eine Bedrohung. Denn während Facebook, Twitter und Instagram ihnen zwar eine hohe Sichtbarkeit verleihen, ermöglichen sie es Benutzern mit zweifelhaften Pseudonymen auch, sie mit Beleidigungen und Drohungen anzufeinden.
Ada Marra, die in Italien geboren ist und politisch klar zum linken Lager gehört, ist eine beliebte Zielscheibe von anonymen Massen, die ihre Gehässigkeiten in sozialen Netzwerken verbreiten. Marra hat sich entschieden, das Gesetz des Schweigens zu brechen, indem sie das Parlament ersuchte, einen Dienst einzurichten, der zuständig wäre für die Vorbereitung von möglichen Anzeigen wegen Drohungen oder Beleidigungen, die Abgeordnete in Ausübung ihres Amtes erhalten.
Am 4. März zog sie ihre MotionExterner Link zurück, nachdem sie zuvor einige der Beleidigungen und Bedrohungen, die sie in den vergangenen Jahren erhielt, als Beispiel angeführt hatte. Im swissinfo-Interview versteckte Ada Marra ihre emotionale Betroffenheit nicht und zeigte sich zugleich kämpferischer denn je.
swissinfo.ch: Ada Marra, was war der Zweck Ihres Vorstosses, der letzte Woche in sozialen Medien die Runde machte?
Ada Marra: Die Idee kam mir während eines Aktionstags zum Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen Ende 2019. Ich hatte mich damals gefragt, was ich an meinem Arbeitsplatz tun kann. Das Parlament hatte bereits Massnahmen gegen sexuelle Belästigung ergriffen, aber was ist mit verbaler Gewalt?
Viele Menschen denken, dass es normal ist, beleidigt zu werden, wenn man Politikerin oder Politiker ist. Heute sieht man diese Beleidigungen und Anfeindungen nicht, weil wir sie nicht verbalisieren.
Doch als ich Beispiele dieser Beleidigungen auf der Tribüne laut vorlas, konnten die Leute die Ungeheuerlichkeit des Gesagten erkennen – und die damit verbundene Entmenschlichung. Das war der Grund für meinen Schritt. Ich hatte aber lange gezögert, bevor ich es tat.
swissinfo.ch: Warum zogen Sie Ihren Antrag zurück?
A.M.: Ich wusste, dass das Büro des Nationalrats (Grosse Kammer) den Antrag ablehnen wollte, und ich wollte nicht das Risiko eingehen, dass das Parlament bei einem solchen Thema Nein sagen würde.
Mein Entscheid war auch dadurch motiviert, dass das Büro meine Bitte gehört hat und diesen Fragen Aufmerksamkeit schenkt. Es bewies dies durch sein Engagement, den Vorschlag unter den Abgeordneten bekannt zu machen, ebenso wie Modalitäten für Anzeigen bei der Polizei, wenn es zu solchen Belästigungen kommt.
Zudem bot das Büro an, Veranstaltungen zu organisieren, um das Bewusstsein für den Kampf gegen Belästigung zu schärfen und Informationen und Daten zu diesem Thema zu sammeln. Ich bin jedoch der Meinung, dass das Bewusstsein im Parlament für die bestehenden Möglichkeiten in diesem Bereich noch nicht ausreicht. Es besteht Bedarf für vertiefte Information.
Darüber hinaus müssen sich die verschiedenen Dienste untereinander abstimmen. Ich habe mich mehrmals mit dem Rechtsdienst oder der Sicherheitsbehörde in Verbindung gesetzt und mir wurde gesagt, ich solle es «fallen lassen». Doch wir brauchen heute eine kollektive Antwort. Es geht nicht mehr nur um einzelne Abgeordnete, sondern um ein demokratisches Problem. Glauben Sie, dass eine junge Frau den Wunsch haben wird, in die Politik zu gehen, wenn sie weiss, dass sie nach einigen Monaten mit Beleidigungen und Beschimpfungen rechnen muss?
swissinfo.ch: Warum sollten Abgeordnete eine Sonderbehandlung erhalten?
A.M.: Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Im Kanton Waadt wurde ein «Schlechtwetter»-FondsExterner Link für die auf Baustellen tätigen Arbeiter eingerichtet. Das bedeutet, dass sie bei extremen Wetterereignissen (Hitze oder Kälte) die Arbeit einstellen können. Es handelt sich also um eine spezifische Massnahme für einen Berufsstand, der bestimmten Belastungen unterliegt.
Als Parlamentsabgeordnete und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind wir verbaler Gewalt ausgesetzt. Es erscheint mir daher nicht abwegig, Massnahmen zu ergreifen, die auf unseren Beruf zugeschnitten sind.
swissinfo.ch: Wird das Thema der Bedrohungen und Beleidigungen unter Parlamentsabgeordneten diskutiert?
A.M.: Es ist ein Tabuthema. Wir wissen jedoch alle, dass es existiert. Wir sind uns auch der Tatsache bewusst, dass wir als Abgeordnete privilegiert sind. Es ist daher schwierig, sich zu beschweren.
Es geht hier nicht um eine Frage des Wehklagens. Ich beschreibe ein Problem, erwecke es zum Leben. Nicht für mich, sondern für alle. Wir müssen der Opferrolle entgehen und den Stier bei den Hörnern packen. Und gerade weil wir privilegiert sind, können wir es wagen, diese Dinge beim Namen zu nennen.
swissinfo.ch: Sind auch Ihre männlichen Kollegen von dieser Art Belästigung betroffen?
A.M.: Von einem unter ihnen weiss ich, dass dies tatsächlich der Fall ist. Ich kann mir vorstellen, dass es noch andere gibt. Wie eine von der Interparlamentarischen Union und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates durchgeführte StudieExterner Link zeigt, sind die Hauptopfer jedoch Frauen. Zudem sind die Beleidigungen, die meine männlichen Kollegen erhalten haben, nicht sexueller Natur.
Ich denke, es wäre sinnvoll, eine ähnliche Studie im Schweizer Parlament durchzuführen, damit alle sich zu diesem Thema äussern können.
swissinfo.ch: Warum ist das noch nicht geschehen?
A.M.: Viele halten es nicht für notwendig. Sie sind der Meinung, dass das bestehende Verfahren zuerst getestet werden sollte. Das stimmt. Es gibt Instrumente, und diese müssen nun eingesetzt werden, um zu sehen, ob sie wirksam sind.
Aber, wie ich bei meinem Vorstoss sagte, wenn sich herausstellt, dass sie nicht wirksam sind, werde ich auf das Thema zurückkommen und für eine Abstimmung im Parlament sorgen. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich den Krisenstab auffordern, den Prozess von A bis Z zu testen.
swissinfo.ch: Beabsichtigen Sie, diese Straftaten der Polizei zu melden (Morddrohungen, Einschüchterungen…)?
A.M.: Ich habe nie eine Anzeige eingereicht, aber mir ist jetzt klar, dass ich es sofort hätte tun sollen, nachdem etwas passiert war. Ich denke, man sollte systematisch Anzeige erstatten und sich dazu ermutigen lassen, insbesondere durch das Bundesamt für Polizei (fedpol).
Zu schweigen oder nicht zu reagieren, kommt einer Verharmlosung der Gewalt gleich. Ist es normal, beleidigt oder bedroht zu werden? Die Antwort ist nein. Im «wirklichen Leben» bin ich nie so beleidigt worden, während es in den virtuellen sozialen Netzwerken keine Zurückhaltung gibt. Zudem glaube ich, dass man schon im Vorfeld ansetzen muss, vor allem in den Schulen, wo viel Aufklärungsarbeit geleistet werden muss.
swissinfo.ch: Sollten Sie als Parlamentarierin nicht mit gutem Beispiel vorangehen und ein solches Verhalten nicht ungestraft lassen?
A.M.: Ja, Sie haben Recht. Das ist eine Verantwortung, die ich bisher einerseits aus materiellen Gründen, andererseits aus emotionalen Gründen nicht wahrgenommen habe.
Lange Zeit war ich der Meinung, dass eine öffentliche Person sich damit abfinden können sollte und sie andernfalls in der Politik nichts zu suchen habe. Aber das ist nicht wahr, das ist eine Mär.
swissinfo.ch: Generell betrachtet, wird in der Schweiz mit Belästigung (moralisch, körperlich, sexuell) angemessen umgegangen?
A.M.: Dank verschiedenen sozialen Bewegungen, politischen Parteien und aussergewöhnlichen Frauen wurde das Ausmass des Phänomens ans Licht gebracht. Es gibt jedoch in dem Zusammenhang immer noch oft Zweifel und es braucht weitere Fortschritte. Ich denke insbesondere an die Tatsache, dass das Schweizer Recht den Begriff des EinverständnissesExterner Link im Bereich der Vergewaltigung noch immer nicht berücksichtigt.
Ich glaube, dass in der Gesellschaft und in den Unternehmen nach wie vor grosser Informationsbedarf besteht, bis alle Frauen wissen, an welche Strukturen sie sich wenden können. Die wenigen Massnahmen, die ergriffen wurden, sollten nun daraufhin überprüft werden, ob sie den tatsächlichen Bedürfnissen entsprechen.
Ich glaube, je mehr Frauen im Parlament sind, desto mehr wird das Thema Belästigung angegangen werden. Heute sind wir eine Minderheit und wollen uns als kompetente Politikerinnen durchsetzen und nicht als Opfer. Und das ist dumm, denn das eine schliesst das andere nicht aus! Nur durch Bewusstseinsbildung und Verbalisierung wird es möglich sein, die Dinge voranzubringen.
Studie über Parlamente Europas
Die Studie Sexismus, Belästigung und Gewalt gegen Frauen in den Parlamenten EuropasExterner Link (Französisch) wurde gemeinsam von der Interparlamentarischen Union und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates durchgeführt. Sie folgte auf eine erste Bestandsaufnahme aus dem Jahr 2016 (Situation in 39 Ländern aus allen Regionen der Welt) und konzentrierte sich dieses Mal auf die Parlamente Europas.
Die Studie basiert auf persönlichen Interviews mit 123 Frauen aus 45 europäischen Ländern, 81 Parlamentarierinnen und 42 weibliche Parlamentsmitarbeiterinnen.
In Zahlen:
▪ 85,2% der Parlamentarierinnen, die an der Studie teilnahmen, sagten, während der Zeit ihres Mandats mit psychologischer Gewalt konfrontiert gewesen zu sein.
▪ 46,9% von ihnen wurde Mord, Vergewaltigung oder Schläge angedroht
▪ 58,2% waren Ziel sexistischer Online-Angriffe in sozialen Netzwerken.
▪ 67,9% waren Gegenstand von Bemerkungen über ihr physisches Aussehen oder aufgrund von Geschlechterstereotypen.
▪ 24,7% haben sexuelle Gewalt erlebt.
▪ 14,8% wurden körperlich angegriffen.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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