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«Crypto-Leaks» stellen Schweizer Neutralität unter Stresstest

Bundeshaus mit Schweizer Fahnen unter einem dunklen Himmel.
Dunkle Wolken über Bundesbern: Wer wusste über die Tätigkeiten des amerikanischen und deutschen Geheimdienstes Bescheid, wann und was? Keystone / Anthony Anex

Die Spionageaffäre rund um die Zuger Firma Crypto AG tangiert auch das Herzstück der Schweizer Identität: die Neutralität. Schweizer Politiker, Historiker und Medien diskutieren mögliche Folgen der manipulierten Chiffriergeräte für die Glaubwürdigkeit des neutralen Kleinstaats.

Noch ist unklar, wer, wann und was über das Wirken des amerikanischen und deutschen Geheimdienstes via die Zuger Verschlüsselungsfirma gewusst hat. Diese Frage ist zentral.

Denn die Schweiz ist zwar völkerrechtlich nicht für das Handeln von Privatfirmen auf ihrem Territorium verantwortlich, wie Historiker Georg Kreis im Gespräch mit dem Tages-Anzeiger klarstellt. Sollte der Bund oder der Geheimdienst aber informiert gewesen sein, sähe die Sache anders aus.

Geheimdienst an Neutralität gebunden

Denn: «Auch der eigene Nachrichtendienst muss sich der offiziellen Doktrin der Neutralität unterordnen», so Kreis. Ansonsten hätten Mitarbeitende des Bundes die Neutralität der Schweiz verletzt. Das scheint der Fall zu sein.

Denn aus den Dokumenten, die unter anderen dem Schweizer Radio und Fernsehen SRF vorliegen, geht klar hervor, dass die Schweizer Geheimdienste in die Operation eingeweiht waren. Bisherige Untersuchungen waren zu einem anderen Ergebnis gekommen.

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Parteipräsidenten und -präsidentinnen von rechts bis links zeigen sich schockiert: «Aus Sicht eines neutralen und souveränen Kleinstaates geht das natürlich gar nicht», sagt etwa Albert Rösti, Parteipräsident der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei gegenüber SRF. Christian Levrat, Parteipräsident der Sozialdemokratischen Partei, sagt, die Affäre erhalte eine «andere Dimension», wenn «sogar Verbündete der USA im Wissen der Schweiz abgehört wurden».

Allgemein bekannt ist, dass die Schweiz ein «westlicher Neutraler» war, wie Historiker Kreis sagt. Generell sei die Schweizer Neutralitätspolitik schon immer sehr elastisch gehandhabt worden: «Wir waren nie ein absolut neutraler Neutraler.»

Innen- und aussenpolitische Folgen

Der Historiker und linke Politiker Jo Lang setzte sich in den letzten Jahrzehnten intensiv mit der Überwachung, Fichierung und der Schweiz als neutraler Staat auseinander. Er findet, dass sich die Schweiz bei den Ländern entschuldigen müsse, die unter dem Deckmantel der Schweizer Neutralität manipulierte Chiffriergeräte gekauft hätten.

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Kreis sieht den Schaden weniger aussenpolitisch als innenpolitisch, auch wenn die Affäre das Vertrauen in die Guten Dienste der Schweizer Diplomaten beschädigt haben könnte. Der Historiker sagt, die Befunde kollidierten «mit dem vorherrschenden Verständnis von Neutralität». Zwar idealisiere die Schweizer Bevölkerung den Neutralitätsbegriff. Würden die Spannungen mit der Realpolitik aber zu gross, trage das Volk die Politik nicht mehr mit.

«Neutralität als Schweizer Lebenslüge»

Die Tageszeitung Der Bund schreibt es so: «Die Enthüllung tut weh. Sie zeigt, dass die Neutralität, die den Schweizerinnen und Schweizern bis heute heilig ist, häufig scheinheilig ist.» Der Kommentator bezeichnet die Neutralität als «Schweizer Lebenslüge» und «ein Stück weit Folklore».

Sollte sich herausstellen, dass die Spionage-Operation den Segen des Bundesrats hatte und der Schweizer Nachrichtendienst aktiv von den Informationen profitierte, dann wäre das «ein Desaster für das neutrale Selbstbild der Schweiz», schreibt die Neue Zürcher Zeitung (NZZ). Ziel sei es nun, «alle Zweifel über die Glaubwürdigkeit der Schweiz als Vermittlerin in Konflikten oder als verlässlicher Wirtschaftsstandort» auszuräumen.

Mehr Klarheit im Sommer?

Spätestens Ende Juni wissen wir mehr. Alt-Bundesrichter Niklaus Oberholzer wurde vom Bundesrat beauftragt, bis dann einen Untersuchungsbericht zur Crypto-Affäre abzuliefern. Gut möglich, dass sich auch das Parlament einschalten wird, die Rufe nach einer Parlamentarischen Untersuchungskommission werden lauter.

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