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Gemeindepräsident: Viel Aufwand, weniger Ertrag

Heile Welt von oben, Artensterben von unten: Immer mehr Gemeinden finden keine Milizleute für ihre Ämter, Exekutiven, Kirchen- und Schulpflegen mehr. swiss-image.ch

"Wir suchen einen Stadtpräsidenten", stand kürzlich in einem Inserat. Viele Gemeinden haben Mühe, ihre öffentlichen Ämter zu besetzen, weil diese mit viel Aufwand und wenig Ertrag verbunden sind. Junge Leute bevorzugen ein Engagement in einer NGO.

«Die Vormundschaftsbehörde erlässt einen Fehlentscheid», «Die Mitglieder der Rechnungsprüfungskommission sind als Laien mit dem komplexen Projekt überfordert», «Sozialhilfebehörde hinters Licht geführt», «Ehrenamtlich tätige Politiker überwerfen sich mit vollamtlichen Chefbeamten».

Sind solche Schlagzeilen Ausdruck eines politischen Milizsystems, das an seine Grenzen stösst?

Tatsache ist, dass Gemeindepolitiker viel arbeiten, schlecht bezahlt sind und gehörig aufs Dachkriegen, wenn etwas schief läuft.

Was lange nur am kommunalen Stammtisch geschah, weitet sich ausserdem immer mehr zur Schelte vor einer vernetzten Gesamtgesellschaft aus.

«Ich glaube nicht, dass es heute mehr Vorfälle als vor 20 oder 50 Jahren gibt», sagt Reto Steiner vom Kompetenzzentrum für Public Management (kpm) der Uni Bern gegenüber swissinfo.ch. «Geändert hat sich aber das Bewusstsein und die Tragweite,»

Die Fehler würden über die Gemeinde hinaus stärker zur Kenntnis genommen, kommentiert, skandalisiert und wirkten sich oft stärker aus als früher.

Parteien inserieren a-priori-Support

Die etablierten politischen Parteien haben auf kommunaler Ebene Mühe, genügend fähige Leute in ihren eigenen Reihen zu finden.

Deshalb werden neue Wege gesucht, zum Beispiel per Inserat: Anfang Februar suchte die Stadt Rapperswil-Jona am Zürichsee auf diese Weise einen Stadtpräsidenten.

«Das ist heute kein aussergewöhnlicher Weg mehr», sagt Steiner, besonders in der Ostschweiz, wo Stadtpräsidenten oft vollamtlich tätig seien.

Doch im Fall von Rapperswil-Jona gehen die drei politischen Parteien, die das Inserat aufgaben, einen Schritt weiter: Sie stellen sogar einen gemeinsamen Wahl-Support für den Bewerber in Aussicht.

Dem Bewerber wird versichert, dass seine Kandidatur – bei Eignung – im zweiten Wahlgang von diesen drei und allenfalls weiteren Parteien getragen würde.

«Das finde ich schon mutig», kommentiert Steiner. Denn man wisse letztlich nie, wie das Stimmvolk wählt. In der Stadt Kreuzlingen hätten fünf per Inserat gesuchte Kandidierende komplizierte und teure Assessments durchlaufen müssen, um ihre Qualifikation für das Amt zu beweisen. Aber das Stimmvolk habe schliesslich einen Sechsten gekürt.

Hingegen sei es nicht aussergewöhnlich, dass auch Parteien, die das Heu nicht auf der gleichen Bühne hätten, gemeinsam Kandidaten suchen.

Putzfrau verdient mehr als Exekutivmitglied

Hinter der schwindenden Attraktivität der Milizämter steht die schwindende Attraktivität der politischen Parteien.

Noch vor zwei Jahrzehnten seien rund 80% der Gemeindepolitiker Parteimitglieder gewesen, rechnet der Forschungsverbund der Universitäten Zürich, Bern und Lausanne vor. Heute haben bereits 50% der Gemeinderäte kein Parteibuch mehr.

Das könne durchaus zum Problem für die Parteien werden, sagt Steiner, «denn die Sozialisation geschieht auf Kommunalebene. Der Klassiker einer solchen Laufbahn beginnt in der Schulkommission, führt in den Kantonsrat und endet im Nationalrat».

Die Bevölkerung hingegen wird weniger über Lokales, als vielmehr über konkrete nationale Themen mobilisiert, wie EU-Beitritt oder Kernenergie. Im Unterschied zur kommunalen, hätten die Parteien auf der kantonalen und nationalen Ebene keine Probleme, Leute zu finden.

So treffen dann Quereinsteiger von oben auf Altgediente von unten. «Die Quereinsteiger sind unverkrampfter, ihre Gemeinde- und Kantonsoptik ist weniger ausgeprägt. Nachteilig wirkt sich aus, dass solche Leute – häufig handelt es sich um Musiker, Ärzte oder andere Prominente – politisch wenig wissen und dennoch gleich hohe Verantwortung übernehmen müssen.»

In der Schweiz gibt es 98’000 Kommunalpolitiker. «Bei rund 5 Millionen  Stimmberechtigten ist somit fast jeder Fünfzigste in einem gewählten politischen Amt», rechnet Steiner vor.

Greenpeace statt Schützenverein

Das Problem des Milizsystems existiere in allen europäischen Ländern, sagt Steiner. Die Bereitschaft, sich längerfristig für etwas Grundsätzliches zu engagieren, nehme allgemein ab. In der Schweiz sei das Problem besonders ausgeprägt, weil hier das Milizsystem auch im öffentlichen Bereich eine überdurchschnittlich grosse Rolle spiele.

Während im Ausland das Milizsystem eher den privaten Bereich betreffe, sei der öffentliche dort weitgehend professionalisiert.

Wo aber ein ganz spezifisches Ziel verfolgt wird, so Steiner, sei man eher bereits, mitzumachen, egal ob in der Schweiz oder Europa. Greenpeace, Entwicklungs-Stiftungen, Klimaschutz, etc.: «Das Engagement ist dann befristet – und zwar für jenes Thema, das einem besonders am Herzen liegt.»

Jenen Aspekt des politischen Systems der Schweiz, wonach öffentliche Aufgaben meist nebenberuftlich/ ehrenamtlich ausgeübt werden, bezeichnet man als Milizsystem.

Das Milizsystem hat in der Schweiz eine lange Tradition. So gehen die meisten Parlamentarier des Stände- und Nationalrats neben ihrer Ratstätigkeit noch einem Beruf nach (Milizparlament).

Auch die Armee besteht zum grössten Teil aus Soldaten und Offizieren, die wochenweise zu Wiederholungskursen aufgeboten werden und die einen zivilen Beruf ausüben (Milizarmee).

Vorteile: Die kleinräumigen, bewusst dezentral gehaltenen Gemeindestrukturen der Schweiz wären ohne das Milizsystem gar nicht aufrecht zu erhalten, weil dies die günstige Variante ist. Auch ist damit eine gewisse Volksnähe (Eigenverantwortung in Exekutive, Schulpflege, Kirchenpflege, etc.) gegeben, die im Zusammenhang mit der direkten Demokratie und der Rolle der Parteien steht.

Nachteil: Transparenz ist auch beim Milizsystem nicht unbedingt gegeben, ehrenamtlich Beschäftigte riskieren immer häufiger fachliche und zeitliche Überforderung. Die Pensen steigen, die Zahl der Kandidaten nimmt ab.

Die kleinste Verwaltungseinheit, die mit politischen Kompetenzen ausgestattet ist, ist die Gemeinde. Die nächsthöhere ist der Kanton, dann die Eidgenossenschaft.

Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird alles, was auf unterster (Gemeinde-)Ebene entschieden werden kann, nicht auf eine höhere (Kantons-)Ebene verschoben.

1990 zählte man 3021 Gemeinden, 2000 noch 2899, 2010 noch 2596.

Die politische Organisation der lokalen Ebene liegt in der Kompetenz der Kantone. Deshalb unterscheiden sich die Gemeinden nicht nur bezüglich ihrer Grösse, sondern auch hinsichtlich ihrer Aufgabenbereiche und ihres administrativen und politischen Aufbaus kantonal stark (Föderalismus).

Corippo im Tessin hat 20 Einwohner, die Gemeinde Zürich mehr als 370’000 Einwohner.

Rivaz in der Waadt umfasst eine Fläche von 30 Hektaren, Bagnes im Wallis 28’000 Hektaren.

Die EU hat 2011 zum «Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit» ausgerufen.

In der Schweiz ist das Forum Freiwilligenarbeit.ch nationale Drehscheibe, Koordinations- und Auskunftsstelle.

2011 sollen die gesellschaftliche Bedeutung der Freiwilligenarbeit sichtbar gemacht und die Anerkennung des freiwilligen Engagements verbessert werden.

«Die Freiwilligen und Ehrenamtlichen sind der Kitt der Gesellschaft», sagte Nationalratspräsident Jean-

René Germanier anlässlich der Eröffnung des Freiwilligenjahres 2011.

Auch Ständeratspräsident Hansheiri Inderkum, Schirmherr des Freiwilligenjahrs, unterstützt diese Aussage: «Freiwilliges Engagement ist unerlässliches Bindeglied zwischen Gesellschaft und Politik.»

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