«Genf benötigt dringenden Renovations-Schub!»
In Genf sind viele Bauten der internationalen Organisationen in schlechtem Zustand. Die Zeiten für Renovierungen sind aber schlecht: Budgetdruck, nervöse Wechselkurse und akuter Mangel an Wohnungen und Büros erschweren die Vorhaben.
Angesichts der schwierigen Situation müssten der Kanton Genf und der Bund eine proaktivere Strategie verfolgen, rät der frühere Botschafter François Nordmann im Gespräch.
swissinfo.ch: In einem Artikel in Le Temps von Anfang Jahr, als das Aussenministerium (EDA) von Micheline Calmy-Rey zu Didier Burkhalter wechselte, warnten Sie vor «Wolken, welche die Zukunft des internationalen Genfs verdunkeln». Sind diese Wolken immer noch da?
François Nordmann: Es gab eine gewisse Unsicherheit im Zusammenhang mit dem Wechsel an der EDA-Spitze, hatte sich doch Calmy-Rey vehement und in geschickter Weise zugunsten des internationalen Genfs eingesetzt.
Aber wir können Entwarnung geben. Die ersten Handlungen machen klar, dass Burkhalter den Kurs Calmy-Reys fortsetzt. Es wird kaum neue Initiativen in der Art des Global Humanitarian Forum geben. Aber die Schweiz wird das Bestehende konsolidieren und weiterentwickeln.
swissinfo.ch: Was sind für Burkhalter und den Kanton Genf die Hauptschwierigkeiten?
F.N.: Organisationen und Unternehmen reagieren auf den starken Franken, indem sie Arbeitsplätze verlagern oder abbauen.
Ein weiterer Punkt ist die Verschlechterung der öffentlichen Sicherheit. Praktisch wöchentlich werden Einheimische, aber auch Diplomaten und deren Familienangehöre Opfer von Attacken. Das ist neu. Genf ist immer noch sicherer als manche andere Stadt, aber viel weniger sicher als noch vor zehn Jahren.
Zudem sind Wohnungen und Büros knapp. Das lässt sich nicht einfach beheben. Dazu kommt der riesige Investitionsbedarf bei der Infrastruktur.
swissinfo.ch: Die Finanzdelegation des Schweizer Parlaments hat jüngst die Frage der Kosten der Renovationen in Genf aufs Tapet gebracht sowie den Punkt, wer diese zu tragen hat. Wie ernsthaft ist dieses Problem?
F.N.: Erstmals scheint das Parlament das Problem erkannt zu haben, denn es hat öffentlich erklärt, dass der Renovation [cr1] der Gebäude der internationalen Organisationen eine Milliarde Franken kosten wird. Der grösste Bedarf herrscht beim Palais des Nations, dem Genfer Sitz der UNO.
Es ist die Annahme, dass die Schweiz zusätzlich zum Beitrag aus dem ordentlichen Budget zur Renovierung dieser Bauten beiträgt.
Bern verweist seinerseits darauf, dass die Renovationen Sache der Eigentümer sind, also Organisationen wie der Internationalen Organisation für Arbeit (ILO) und der Weltgesundheits-Organisation (WHO). Die Schweiz hat den Palast den Vereinten Nationen geschenkt. Die UNO hätte Rückstellungen machen sollen, tat dies aber nicht.
Die Direktoren der UNO-Organisationen stellen sich auf den Standpunkt, dass sie die Gelder, welche die Regierungen einbezahlen, zur Finanzierung von Programmen verwenden sollen und nicht zum Aufbau finanzieller Reserven.
Der Schweiz bringt die Präsenz der internationalen Organisationen gemäss eigenen Angaben jährlich drei bis vier Milliarden Franken ein. Die Mitgliedstaaten erwarten von ihr nun eine Geste des Entgegenkommens. Dies umso mehr, als die UNO eigentlich nur einen einzigen Hauptsitz brauchen würde.
Die benötigte Summe muss irgendwo herkommen. Sie ist nicht so gross, aber auch nicht so klein, gerade in Zeiten von Budget-Kürzungen. Mit dem Auftrag zur Ausarbeitung eines strategischen Berichts durch die Finanzdelegation wurde die Finanzierungsfrage zur politischen Priorität.
swissinfo.ch: Kaum Fortschritte bei der Abrüstungskonferenz seit 16 Jahren, die Welthandels-Organisation (WTO) tritt an Ort: Fürchten Sie einen Niedergang der diplomatischen Aktivitäten in Genf?
F.N.: Das Risiko besteht vielmehr für eine Stagnation als für einen Rückgang. Die Ankunft der WTO verlieh Genf einen riesigen Schub. Zahlreiche Missionen wurden errichtet, es gab viele zusätzliche Verhandlungen. Aber heute ist die Organisation blockiert.
Auch was die Abrüstung betrifft, kann nicht viel getan werden. Das Thema ist hochpolitisch, deshalb ist Genf gänzlich von den politischen Entwicklungen rund um China, Pakistan und die USA abhängig.
Abgesehen von diesen beiden Bereichen verläuft der Betrieb normal. Die WHO war jüngst in einer Krise, und auch die ILO benötigt eine Blutauffrischung, aber dies sind normale Entwicklungen. Organisationen wie die Internationale Telekommunikations-Union (ITU) oder die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) entwickeln sich hervorragend.
swissinfo.ch: Hat sich die Schweiz in den letzten Jahren zu stark auf den Lorbeeren ausgeruht statt ihre Hausaufgaben zu machen?
F.N.: Die Schweiz ist sich des Problems bewusst, hat aber keine Lösung dafür. Es ist eine Frage der Prioritäten und Ressourcen. Wir wollen keinen Sonder-Effort zugunsten der internationalen Organisationen leisten. Stattdessen lassen wir alles so weiterlaufen wie bisher und beschwichtigen. Aber es ist offensichtlich, dass dies nicht mehr ausreicht.
Ich befürworte eine proaktivere, offensivere Politik, insbesondere seitens der Genfer Behörden. Sie sollten sich mehr dafür interessieren, was innerhalb der Organisationen geschieht. Der Bund sollte mehr Präsenz zeigen und eine einheitliche Politik verfolgen.
Die Finanzdelegation stellt Fragen und will eine Strategie entwickeln, wie die künftigen Beziehungen zwischen Bern und Genf aussehen könnten. Es fehlt aber ein Nachdenken über das multilaterale System. Damit können wir Ideen entwickeln, wie wir zur Gestaltung des 21. Jahrhunderts beitragen können.
Auch der Kanton sollte dem internationalen Genf eine höhere Priorität einräumen. Es gibt zwei Behörden, die mehr oder weniger Konkurrenten sind. Die tägliche Routine funktioniert sehr gut, aber was es jetzt braucht, ist ein grosser Schub.
Genf ist Sitz von 32 internationalen Organisationen, darunter WHO, WTO, ILO und IKRK. Sie alle bringen dem Kanton pro Jahr Einnahmen von rund 3 Mrd. Franken.
Insgesamt arbeiten in Genf rund 40’000 Diplomaten und Beamte. 8500 sind allein bei der UNO angestellt. Ihr angegliedert sind 169 internationale Missionen.
2400 Personen sind für Nichtregierungs-Organisationen tätig.
Laut dem Schweizer Aussenminister Didier Burkhalter planen der Bund und der Kanton Genf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Genfs in den nächsten Jahren. (März 2012).
Isabel Rochat, Mitglied der Genfer Kantonsregierung: «Genf ist wie ein Märchenhaus: Man fragt sich, welche Art von Renovation es braucht, damit es im 21. Jahrhundert bewohnbar bleibt. Ein simpler Farbanstrich genügt nicht, es braucht eine Erneuerung von unten bis oben. (…) Wagen wir, visionär zu sein und dem internationalen Genf frische Luft zu gönnen?» (Juni 2011).
Dante Martinelli, Botschafter der Schweiz bei der UNO in Genf: «Internationale Organisationen sind als Eigentümer ihrer Bauten verantwortlich für deren Unterhalt und Renovation. Als Mitgliedsland hat die Schweiz die Besitzer von Bauten stets ermuntert, eine finanzielle Reserve für Renovierungen zu bilden. Das haben die Organisationen aber nicht immer getan. Die Finanzierung der Vorhaben wird künftig einige innovative Lösungen erfordern.» (Mai 2012).
Geboren 1942, Studium der internationalen Beziehungen in Freiburg und Genf. Schweizer Diplomat von 1971 bis 2007.
Er war diplomatischer Berater unter den Aussenministern Pierre Graber und Pierre Aubert, Berater der Schweizer Beobachtungsmission bei der UNO 1980-1984 und Botschafter in Guatemala und fünf weiteren zentralamerikanischen Staaten.
1987 war Nordmann auch Delegierter der Schweiz bei der Unesco und 1992 Direktor der Abteilung für internationale Organisationen im Aussenministerium.
1994-1999 war er Botschafter in Grossbritannien, 2000-2002 Leiter der Schweizer Beobachtungsmission bei der UNO in Genf. Danach Botschafter in Frankreich und Monaco. Seit 2007 ist er privater Berater und politischer Analyst.
(Übertragen aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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