Genfer Initiativen für eine bessere Welt
Mehra und David Rimer sind ein ungewöhnliches Ehepaar. Sie eine Schweizer Muslimin iranischer Herkunft, er ein Jude kanadischer Herkunft. Gemeinsam leiten sie eine Initiative zur Verbreitung einer Kultur des Friedens und der Zusammenführung von Menschen. Die Bemühungen von Mehra und David sind nur ein Beispiel für die innovativen Beiträge, die Menschen im internationalen Genf zur Bewältigung verschiedener Krisen leisten.
Begonnen hat für das Ehepaar alles 2015 mit einer Reise in die Konfliktzone im Nahen Osten (Israel und Palästina). Die Reise bewirkte eine grosse Veränderung in ihrem Denken und ihrem Aktivismus.
«Während dieser Reise trafen wir Friedensaktivisten, die einen echten Dialog führten, weg von dem peinlichen Schweigen, das sich normalerweise breitmacht, wenn es um die Beziehung zwischen den beiden Völkern geht», sagt David.
Im Gespräch mit swissinfo.ch macht Mehra kein Hehl aus ihrer Bewunderung für die Erfahrung von Abu Awad, einem ehemaligen palästinensischen Gefangenen, der am ersten palästinensischen Aufstand teilgenommen und vor einigen Jahren seinen Bruder bei einem Zusammenstoss mit israelischen Soldaten verloren hatte. «Seine Waffe ist seine Menschlichkeit, und die Stärke seiner Menschlichkeit liegt in seiner Fähigkeit, andere zu überzeugen.»
Inspiriert von diesen Erfahrungen beschloss das Ehepaar nach seiner Rückkehr nach Genf, den Verein «B8 of Hope» zu gründen. Mit dem Ziel, «israelische und palästinensische Friedensbefürworter zu mobilisieren, die überzeugt davon sind, dass es einen anderen als den gewaltsamen Weg gibt, die Ziele ihres Volks zu erreichen», sagt Mehra.
Tatsächlich «entdeckten wir schnell die Existenz von Dutzenden von Gruppen in Israel und Palästina, die sich für die Verbreitung einer Kultur des Friedens einsetzen, und heute unterstützen wir 16 NGO auf beiden Seiten».
Einige dieser Organisationen vertreten entweder Familien von Opfern, die ihre Kinder in diesem Konflikt verloren haben, oder sind Gremien, die palästinensische Kämpfer und israelische Soldaten repräsentieren, die ihre Waffen niedergelegt und den Slogan des «gemeinsamen Widerstands für ein Leben in Frieden» angenommen haben.
Diese Friedensaktivistinnen und -aktivisten «glauben, was geschehen ist, ist geschehen. Und wenn wir die Vergangenheit nicht ändern können, dann müssen wir in der Gegenwart mit einem gemeinsamen optimistischen Blick in die Zukunft leben», sagt Mehra.
126 Porträts
Mehra und David sind nur zwei Personen, die im neusten Buch des Schweizer Schriftstellers und Bloggers Zahi Haddad – «126 Herzen schlagen für das internationale Genf» – beleuchtet werden.
Gegenüber swissinfo.ch lobt Haddad die Vitalität und Effektivität solcher zivilen Institutionen. Sie seien flexibel und fähig, schnell zu intervenieren und in verschiedenen Bereichen eine direkte Wirkung zu erzielen.
Diese Initiativen zielten nicht nur darauf ab, die Situationen vor Ort zu verbessern. Ihr Ziel sei generell «unseren Geisteszustand zu ändern und der Menschheit eine neue Vision zu geben», sagt Haddad. Das soll es den Menschen ermöglichen, in Harmonie mit ihren Mitmenschen und mit der Tier- und Pflanzenwelt um sie herum zu leben.
«Wie wichtig solche Ansätze sind, zeigt die aktuelle Situation: Sie offenbart die Zerbrechlichkeit der menschlichen Errungenschaften und zeigt, dass es notwendig ist, über die Welt von morgen in einer anderen Art und Weise zu denken», sagt Haddad. Diese neue Welt, die wir uns erträumten, werde aber nicht durch eine Gesetzesänderung hier und da erreicht, sondern durch «eine grundlegende Veränderung in unserer Wahrnehmung der Dinge».
Die im Buch beschriebenen Initiativen zielen darauf ab, den Frieden zu fördern, die Umwelt zu bewahren und eine gerechtere Gesellschaft einzufordern.
Bessere Anerkennung der Fähigkeiten
Eine andere Genfer Initiative für eine bessere Welt geht von Rocío Restrepo aus. Sie floh 1999 aus der Hölle des tyrannischen Regimes in Kolumbien, mit zwei Universitätsabschlüssen in den Bereichen Wirtschaft und Handel und einer Berufserfahrung von mehr als 18 Jahren in der Tasche. Trotzdem gelang es ihr nicht, sich in den Genfer Arbeitsmarkt zu integrieren. Denn ihre Qualifikationen wurden hier nicht akzeptiert.
Anstatt der Gesellschaft die Schuld zu geben, sagt Restrepo heute: «Ich beschloss, Frauen mit ähnlichen Erfahrungen zu treffen, um von ihnen zu lernen. Deshalb gründete ich den Verein ‹Découvrir’ [A.d.R.: was ‹Entdecken› bedeutet], um die Verschwendung von Fachwissen zu bekämpfen. Zudem wollte ich Behörden und Unternehmen dafür sensibilisieren, sich für Migrantinnen zu öffnen, die akademische Abschlüsse und langjährige Erfahrung in verschiedenen Disziplinen haben.»
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Oft unterschätzen sich die Migrantinnen selbst
Der Start war schwierig. Der Verein erhielt anfangs keine Anerkennung von den Behörden und musste seine Relevanz und Nützlichkeit erst beweisen. Im ersten Jahr ging die Zahl seiner Mitglieder nicht über vierzig hinaus. Heute unterstützt er in mehreren Schweizer Kantonen über 700 Frauen pro Jahr.
«Die Schweizer Verwaltung ist klug und verwaltet die finanziellen Mittel, die ihr zur Verfügung stehen, gut. Aber sie schätzt Erfahrungen, die Menschen aus dem Ausland mitbringen, weniger wert», sagt Restrepo gegenüber swissinfo.ch.
Dank der Kommunikation des Verbands vor allem mit privaten Unternehmen vermeldet Restrepo: «Einige Unternehmen überdenken jetzt die unmöglichen Bedingungen, die sie für eine Anstellung bei ihnen stellen. Etwa das Recht auf einen dauerhaften Aufenthalt (Ausweis C) oder die Schweizer Staatsbürgerschaft.»
Die Welt von morgen «muss allen die Möglichkeit geben, ihr Wissen und ihre Erfahrungen auf faire Weise einzubringen. Frei von jeglicher Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Sprache oder Herkunft», so Restrepo.
Vom Flüchtling zum Umwelt-Investor
Eine dritte Episode in dieser Reihe von Genfer Initiativen für eine menschlichere und gerechtere Welt handelt von Nhat Vuong. Er kam 1980 als Flüchtling mit seiner Familie nach Genf, als er noch ein Baby war. Sie waren vor den Folgen des Kriegs zwischen Süd- und Nordvietnam geflohen. Vuong wuchs in Genf auf, studierte und machte schliesslich seinen Abschluss als Ingenieur an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Lausanne.
Im Gespräch mit swissinfo.ch erzählt Vuong von einem wichtigen Moment in seinem Leben, der seine Sicht auf die Realität radikal veränderte: «Nachdem ich 1995 den Schweizer Pass erhalten hatte, besuchte ich mit meiner Familie unser Herkunftsland. Da sah ich mich zum ersten Mal konfrontiert mit den Tragödien der Armut, den Entbehrungen und der Verletzung der Rechte der Kinder auf Bildung und ein menschenwürdiges Leben.»
Es habe ihm das Gefühl gegeben, «dass wir in der Schweiz in einer Blase leben und im Alltag die Nöte anderer Völker vergessen». Und er ergänzt: «Das tat mir weh und veranlasste mich, darüber nachzudenken, etwas zu tun, um anderen zu helfen.»
Zufällig sei er auf eine Anzeige gestossen für eine neue, von einem spanischen Ingenieur erfundene Technologie, die feuchte Luft – nachdem sie von Schadstoffen gereinigt wurde – in Trinkwasser umwandelt, sagt Vuong: «Ich dachte sofort daran, Flüchtlingen zu helfen, zumal damals der Konflikt in Syrien eskalierte und viele Syrerinnen und Syrer in den Libanon flohen. Ich dachte, dass diese Maschine nicht in einer Garage stehen bleiben sollte.»
Weil er ahnte, welche Krise der Welt durch die zukünftige Wasserknappheit bevorsteht, gründete Vuong die NGO «Water Inception». Er sammelte Spenden durch Crowdfunding – insgesamt rund 30’000 Schweizer Franken.
Mit diesem Startkapital kaufte er das erste Gerät, das in einem syrischen Flüchtlingslager in Tripoli im Nordlibanon installiert wurde. Dieses wird bald täglich 500 Liter Trinkwasser aus frischer Luft produzieren. Dafür arbeitete Vuong rund zwei Jahre lang.
2019 lancierte er ein neues Startup. Diesmal hatte es nichts mit Wasser zu tun. Er wollte eine Geldquelle finden, um seine gemeinnützigen Projekte zu finanzieren. Mit einem vietnamesischen Partner begann er, umweltfreundliche Produkte herzustellen. Diese werden in Vietnam produziert und in die ganze Welt exportiert, sind recycelbar und eine Alternative zu Kunststoffprodukten.
Den Anfang machten sie mit Trinkhalmen aus Kartoffeln und Magnesium, die nach dem Gebrauch verzehrt oder recycelt werden können. In der Schweiz wird dieses Produkt auf grossen Festivals verteilt und in Coop-Läden verkauft.
Im Gespräch erwähnt Vuong ein zweites Produkt, passend zur aktuellen Gesundheitskrise: in der Schweiz zugelassene und antibakterielle Hygienemasken, die heute in Postfilialen verkauft werden. Ziel ist auch, die Verschmutzung durch weggeworfene Masken zu reduzieren.
Labor für kreative Ideen
Die Bedeutung solch umweltfreundlicher Produkte steige, sagt Vuong: «Wir wissen, dass die Europäische Union ab Januar den Verkauf aller Einwegprodukte aus Plastik verboten hat.»
Vuong, der heute in der Stadt Nyon nahe Genf lebt, ist der Meinung, dass «die Welt nachhaltige Initiativen braucht. Sie schonen die Umwelt und bewahren ihre Ressourcen vor Verschwendung, haben aber auch einen positiven Einfluss auf die Bedürftigen».
Er ist sich zwar sicher, dass «die Welt nicht mit einem Federstrich oder einem Wimpernschlag verändert werden kann», aber er glaubt daran, dass «jede und jeder die Macht hat, diese Welt zu verbessern, wenn sie oder er den Willen dazu hat».
Diese Beispiele machen Genf, die internationale Stadt in der Westschweiz, zu einem Pionierlabor für kreative Ideen, die eine menschlichere, gerechtere und friedlichere Welt anstreben.
So wie hier in der Vergangenheit wichtige Initiativen ergriffen wurden, die später in multilateralen Gremien ihren Niederschlag fanden, von denen die Menschheit profitierte. Etwa das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, das Henry Dunant 1864 gründete, oder der Völkerbund, der hier vor einem Jahrhundert seine Arbeit aufnahm.
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