Die Schweiz und das afrikanische Jahr
1960 ist das Symboljahr der Entkolonialisierung Afrikas. Ganze 17 Länder erlangen die Unabhängigkeit von den Kolonialmächten. Die Schweiz nimmt rasch diplomatische Beziehungen mit den neuen Staaten auf. Die Devise lautet "Zusammenarbeit". Aber die Schweizer Politik zielt auf ökonomische Interessen. Und diese stehen, wie im Fall Südafrikas, quer zu den politischen Interessen.
«Man muss sich dabei bewusst sein, dass in dieser Entwicklungsphase der Afrikaner noch nicht sein wirkliches Gesicht zeigt. Er kennt es selber noch nicht, denn er hat seinen Weg noch nicht gefunden. Seine kritische Einstellung gegenüber Europa braucht nicht von Dauer zu sein.
Während dieser Übergangszeit ist aber sein Inneres offen für die Einflüsterungen verschiedenster Art, insbesondere solchen, die ‹antikolonialistisch›, antieuropäisch, antiwestlich sind. Es erscheint daher von ganz besonderer Wichtigkeit, dass dem Afrikaner in den nächsten Jahren deutlich gezeigt wird, dass seine Zukunft in einer Zusammenarbeit mit der westlichen Welt liegt. Dies setzt aber eine sehr substantielle menschliche und kapitalmässige Hilfeleistung voraus.»
Bericht Externer Linkdes Schweizer Botschafters Edwin Stopper, Februar 1960.
Im Jahr 1960, genau vor 60 Jahren, beschleunigen sich in Afrika die politischen Entwicklungen. Bereits ab Januar begann man in internationalen diplomatischen Kreisen mit Blick auf die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonien vom «Afrikanischen Jahr» oder «Afrika-Jahr» zu sprechen. Bis Dezember 1960 erlangen ganze 17 LänderExterner Link, zumeist ehemalige französische Kolonien in Westafrika, ihre Unabhängigkeit.
Die Entkolonialisierung hat starke Auswirkungen auf die internationale Gemeinschaft. «Die Flut des afrikanischen Nationalismus fegt alles weg, was vor ihr liegt, und stellt eine Herausforderung für die Kolonialmächte dar, welche die Jahre des Unrechts und der Verbrechen, die gegen unseren Kontinent begangen wurden, wiedergutmachen müssen», donnert Kwame NkrumahExterner Link, Präsident von Ghana, im Oktober 1960 in seiner Rede vor der Versammlung der Vereinten Nationen.
Während die antikoloniale Welle viele Hoffnungen für eine bessere Zukunft Afrikas weckt, lässt sie gleichzeitig latente Spannungen auf dem afrikanischen Kontinent aufbrechen. Zu erwähnen ist insbesondere die Kongo-Krise, die die ehemalige belgische Kolonie ins Chaos stürzt und im Mittelpunkt einer der grössten UNO-Missionen der Geschichte steht. In Südafrika markiert das Massaker an friedlichen Demonstranten in Sharpeville Externer Linkam 21. März 1960 durch die Polizei den Beginn der fortschreitenden internationalen Isolation des Regimes
Dringende Anerkennung
Ende der 1950er-Jahre spielt Afrika für die Schweiz politisch und wirtschaftlich eine untergeordnete Rolle. Schweizer Unternehmen haben gerade erst begonnen, ihre Aktivitäten auf dem schwarzen Kontinent zu entwickeln. Nur in einigen wenigen Sektoren – Kakaoproduktion in Ghana, Baumwollproduktion in Ägypten und Goldproduktion in Südafrika – gab es Handelsbeziehungen von einer gewissen Bedeutung.
Die ersten Schweizer erreichten Afrika im 17. JahrhundertExterner Link in der Folge von holländischen Expeditionen. Später beteiligten sich Schweizer Söldner an verschiedenen Militäreinsätzen auf afrikanischem Boden und trugen während der Kolonialzeit zur Eroberung Algeriens, Marokkos und des Kongo bei. Einige Schweizer Kaufleute sind damals auch im Sklavenhandel tätig. Zudem begaben sich im 19. Jahrhundert zahlreiche Schweizer MissionareExterner Link nach Afrika.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten rund zehntausend Schweizerinnen und Schweizer in Afrika; die grösste Kolonie mit rund 2000 Einwohnern befindet sich zu Beginn der 1950er-Jahre in Algerien. Nach der Unabhängigkeit Algeriens wurde Südafrika zum wichtigsten Zentrum der Schweizer Präsenz auf dem Kontinent; 2017 lebten über 8600 Schweizerinnen und Schweizer in Südafrika.
Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz
Doch die Entwicklungen von 1960 zwangen Bern zu einer Reaktion. Die diplomatische Anerkennung der neuen Staaten «ist ein dringendes Problem», so der damalige Schweizer Aussenminister Max Petitpierre. «Bis zu diesem Zeitpunkt konnte die Schweiz ihre Beziehungen zu den afrikanischen Kolonien über die Kanzleien in London, Paris oder Brüssel abwickeln», sagt Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis)Externer Link. «1960 muss Bern dann ein neues Netz von diplomatischen Vertretungen aufbauen.»
Da der Weg in die Unabhängigkeit für die neuen Staaten in einem «regulären» rechtlichen Rahmen verläuft – das heisst mit Zustimmung der Kolonialmächte –, kann die Schweiz mit der diplomatischen Anerkennung zügig vorwärts machen.
Neuer Wettlauf nach Afrika
Abgesehen von den diplomatisch-technischen Anpassungen ist die Reaktion der Schweiz auch Ausdruck konkreter politischer und wirtschaftlicher Interessen. «Die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten bietet der Schweiz die Möglichkeit, sich am neuen Wettlauf um Afrika zu beteiligen», sagt Dodis-Mitarbeiter Yves Steiner.
«Wir werden durch den vermehrten direkten Kontakt mit diesen Ländern unsere Handels- und Investitionsbeziehungen intensivieren können […]. Das Vorhandensein des diplomatischen Schutzes macht diese Gebiete für unsere Wirtschaft kommerziell, industriell und finanziell attraktiver», schreibt der Schweizer Diplomat Edwin Stopper, der Anfang der 1960er-Jahre auf Erkundungsmissionen in Afrika unterwegs war.
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In den folgenden Jahren nahm Bern Handelsverhandlungen mit verschiedenen afrikanischen Ländern auf. Im März 1962 wurde mit Tunesien ein Abkommen über Handel, Investitionsschutz und technische Zusammenarbeit geschlossen, das als Modell für ähnliche Abkommen dienen sollte, die im selben Jahr mit Niger, Guinea, Elfenbeinküste und Senegal unterzeichnet wurden. Weitere Abkommen folgten.
Nicht-koloniale Vergangenheit
In den Beziehungen zu den jungen Staaten hat Bern einen Vorteil: In Afrika wird die Schweiz nicht als Kolonialstaat wahrgenommen. «Man kennt ihre Sonderstellung als Neutraler, weiss, dass sie weder eine imperialistische noch eine kolonialistische Vergangenheit aufgewiesen hat und begegnet ihr mit Vertrauen», bemerkt Botschafter Raymond Probst am Ende einer Reise nach Westafrika.
In den Augen der Schweizer Diplomatie kann das gute Image der Schweiz auf dem afrikanischen Kontinent ein Gegenmittel gegen den kommunistischen Einfluss sein, der von Bern als «reale Bedrohung» gesehen wird. «Die Erfolgschancen für die Kommunisten sind in Afrika wesentlich höher als anderswo», meint Petitpierre an einer Botschafterkonferenz 1960.
Und weiter: «Ich glaube, dass die Schweiz einen positiven Beitrag leisten kann, weil es Vertrauen in ihre demokratischen Institutionen gibt, und weil sie die Schwierigkeiten, die sich aus ihrem Anderssein ergeben, überwunden hat.»
Konkret bietet Bern Unterstützung bei der Lösung von politischen Konflikten auf dem afrikanischen Kontinent an. Der bekannteste Fall betrifft die Rolle der Schweizer Diplomatie bei den Verhandlungen, die im März 1962 zu den Abkommen von EvianExterner Link zwischen algerischen Nationalisten und der französischen Regierung führen, einer Voraussetzung für die Unabhängigkeit Algeriens.
Im Jahr 1960 folgt die Schweiz, obwohl sie nicht Mitglied der Vereinten Nationen ist, auch dem Ersuchen des damaligen Generalsekretärs Dag Hammarskjöld, im Rahmen der UNO-Mission in der Demokratischen Republik KongoExterner Link technische, medizinische und administrative Hilfe zu leisten
Die Anfänge der Zusammenarbeit
Andererseits ist der stärker werdende Fokus der Schweiz auf Afrika auch Teil eines sich abzeichnenden Engagements in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. «Der Schweizer Ansatz beruht nicht nur auf spezifischen Interessen, sondern auch auf den Prinzipien der Solidarität», stellt Yves Steiner fest.
1960 wurde ein Dienst für technische Zusammenarbeit geschaffen, der die Entwicklungshilfe-Aktivitäten zentral im Eidgenössischen Politischen Departement, dem späteren Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), ansiedelte. Im darauffolgenden Jahr bewilligte das Parlament eine beträchtliche Erhöhung der Kredite für die technische Zusammenarbeit und stellte 60 Millionen Franken für einen Zeitraum von drei Jahren zur Verfügung.
Während sich die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz zunächst vor allem auf asiatische Länder konzentrierte, insbesondere Nepal und Indien, rückte bald Afrika in den Fokus des Schweizer Engagements.
Bern legt den Schwerpunkt auf kleine Länder, «wo die Hilfe der Schweiz relativ bedeutsamer und ihre Auswirkungen leichter überblickbar sind». Die Hilfe in Afrika konzentriert sich zunächst auf Tunesien und Ruanda, «einem dem Emmental gleichenden grünen Hochland», dann auf Kamerun und Dahomey und in den 1970er-Jahren auf Kenia und Madagaskar.
Aufgrund des starken Engagements in Ruanda Externer Linkgibt der dortige Völkermord an der Tutsi-Minderheit im Jahr 1994 später Anlass zu vielen Diskussionen über Sinn und Grenzen der Entwicklungszusammenarbeit.
Südafrika als Hypothek
Der relative Erfolg der Schweiz bei der Bewältigung der Entkolonialisierung in Afrika zu Beginn der 1960er-Jahre weist jedoch eine umstrittene Kehrseite auf: Die engen wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen zu Südafrika und die Weigerung, sich den UNO-Sanktionen gegen das rassistische Apartheid-Regime in Pretoria anzuschliessen.
Obwohl die Schweizer Politik seit 1968 dieses verurteilte, macht die Privatwirtschaft weiterhin Geschäfte mit einem Land, das von weiten Teilen der internationalen Gemeinschaft geächtet wird.
«Die Schweiz enttäuscht Afrika immer wieder, dabei könnte sie Vorbild Afrikas sein. Afrika verlangt lediglich die Anwendung der hohen Grundsätze, die die Schweiz gross gemacht haben, auf Afrika», bemerkt der Generalsekretär der Organisation für Afrikanische Einheit, Diallo Telli, 1971 im Gespräch mit dem Schweizer Botschafter in Addis Abeba, Heinz Langenbacher.
«Die schweizerischen Wirtschaftskreise sollten überzeugt werden, dass ihr Engagement in den von den Weissen beherrschten Gebieten [Telli verwies auf das damalige Rhodesien und Südafrika] kurzsichtig ist und sich einmal rächen wird.»
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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