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Lektionen in direkter Demokratie für Frankreich

Zwei Staatsmänner
Willi Ritschard (links) und Raymond Barre vor dem Lohn, dem Landsitz des Bundes bei Bern, am 30. Juni 1978. SRF-SWI

Im Rahmen der Debatten in Frankreich über eine Abstimmung über die Einführung einer Bürgerinitiative wurde oft auf das schweizerische Demokratiemodell verwiesen. Schon 1978 versuchte ein Schweizer Bundespräsident, einem französischen Premierminister die direkte Demokratie zu erklären.

«Sie kennen unser politisches System. Das Stimmvolk entscheidet über alles. Sogar über die Einführung der Sommerzeit. […] Unser Regierungssystem hat die Besonderheit, dass man nicht eine Regierung wählt, sondern dass den Menschen eine Regierungsposition gegeben wird. Die gewählten Amtsträger erhalten keine Macht. Es ist das Volk, das sie behält, selbst jene Macht, über die kleinsten materiellen Details zu entscheiden. Anders gesagt, es ist das Volk, das regiert. […]»

Rede des Bundespräsidenten Willy RitschardExterner Link anlässlich des Besuchs des französischen Premierministers Raymond Barre in der Schweiz, 30. Juni 1978

Vermutlich war Raymond Barre etwas erstaunt an jenem 30. Juni 1978, als er die Demokratielektion des Gastgebers hörte. Der französische Premierminister war kurz vor 13 Uhr mit dem Helikopter am Flughafen Belp bei Bern gelandet und dort vom Schweizer Aussenminister Pierre Aubert empfangen worden.

Im nahen Kehrsatz, auf dem Landsitz LohnExterner Link des Berner Patriziats aus dem 18. Jahrhundert – eine der Residenzen des Bundesrats – warteten drei weitere Mitglieder der Schweizer Landesregierung auf ihn. Darunter auch Bundespräsident Willy RitschardExterner Link, ein charismatischer, beliebter ehemaliger Heizungsmonteur und Gewerkschafter.

«Ein historisches Ereignis»

Die Atmosphäre war bedeutungsschwanger. «Ich möchte sogar behaupten, dass es sich um ein historisches Ereignis handelt, denn dies ist das erste Mal, dass uns ein Premierminister Frankreichs, unseres grossen Nachbarn, besucht», ging Ritschard so weit, zu sagenExterner Link.

Tatsächlich aber täuschte sich der Bundespräsident. Bereits im Juni 1954 hatte die Regierung den französischen Regierungschef Pierre Mendes FranceExterner Link in Bern empfangen. Dieser hatte an der Genfer IndochinakonferenzExterner Link teilgenommen.

Demokratische Überzeugungen

Auf jeden Fall waren die Beziehungen zwischen der Schweiz und Frankreich herzlich. «Einige Ungereimtheiten gab es im Bereich der Währungsbeziehungen», sagt Joël Praz, Mitarbeiter bei der Forschungsstelle «Diplomatische Dokumente der Schweiz»Externer Link (Dodis). «Paris hatte eine mögliche Adhäsion der Schweiz zur so genannten europäischen WährungsschlangeExterner LinkbehindertExterner Link

In einer ersten Version der Rede von Willi RitschardExterner Link, die von einem Funktionär des Eidgenössischen Politischen Departements (später Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten, EDA) vorbereitet worden war, lag der Schwerpunkt auf wirtschaftlichen Fragen. Der Text verwies auch auf die Schwierigkeiten, die mit der Stärke des Schweizer Frankens verbunden sind.

Ritschard allerdings war damit nicht zufrieden und tadelte den Funktionär, seine Überzeugungen «ignoriert»Externer Link zu haben. In einer neuen Version der RedeExterner Link wurde der Schwerpunkt dann auf das demokratische System der Schweiz gelegt. «Vor allem darin liegt das Geheimnis unserer politischen Stabilität. Aber dieses hat nicht nur seine guten Seiten. Es hindert uns oft daran, uns für neue Dinge zu öffnen.»

Dieser Artikel ist Teil einer Serie, die sich in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle «Diplomatische Dokumenten der Schweiz» (Dodis) den «Geschichten der Schweizer Diplomatie» widmet. Die Forschungsstelle Dodis, ein Institut der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, ist das universitäre Kompetenzzentrum für die Geschichte der Schweizer Aussenpolitik und der internationalen Beziehungen seit der Gründung des Bundesstaates 1848. Dodis

Hilfreich bei Verhandlungen

Doch war es für die Schweiz üblich, in den internationalen Beziehungen auf ihr eigenes demokratisches Modell zu verweisen? «Nicht in dem Sinn, die direkte Demokratie als Modell für andere Länder vorzuschlagen. Das wäre in diesem Fall eine Einmischung gewesen», sagt Sacha Zala, Direktor von Dodis.

«Die Schweiz setzt jedoch oft das Argument der direkten Demokratie ein, um in internationalen Verhandlungen Zugeständnisse zu erhalten. Die Bundesbehörden können immer sagen: ‹Das Volk muss noch entscheiden…›.»

«Auf internationaler Ebene konnte das Schweizer Demokratiemodell auch auf ein gewisses Verständnis zählen», ergänzt Praz. Er gibt ein Beispiel: Zwei Jahre vor Barres Besuch in Bern hatte das Stimmvolk einen Kredit von 200 Millionen Franken für die Internationale EntwicklungsorganisationExterner Link (IDA) an der Urne abgelehntExterner Link.

Etwas später konnte die Geschäftsprüfungs-Kommission des Ständerats (Kantonskammer) feststellen, dass die Reaktionen auf die Abstimmung im Ausland nicht nur negativ waren. «So zeigen die Kommentare westlicher Zeitungen […] mehrheitlich ein gewisses Verständnis für das Abstimmungsergebnis. Dies meisten mit der Begründung, dass ein Referendum in einem anderen Industrieland wohl kaum ein anderes Resultat ergeben hätte […].»

Direkte Demokratie zwischen Frankreich und der Schweiz

In letzter Zeit wurde in Frankreich verstärkt über die direkte Demokratie der Schweiz gesprochen. Dies im Zusammenhang mit dem Referendum der Bürgerinitiative «référendum d’initiative citoyenne» (RIC), das die Protestbewegung der Gelbwesten fordert.

Auch in der Debatte über das Referendum gegen die Privatisierung der Pariser Flughäfen wird immer wieder auf die Schweiz Bezug genommen.

Angesichts des Interesses an der direkten Schweizer Demokratie organisierte die Schweizer Botschaft in ParisExterner Link im vergangenen März eine Debatte, um die Besonderheiten des Schweizer Modells zu erläutern. Ehrengast war die ehemalige Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey.

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