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«Auch in der Schweiz wird die Vergangenheit als Echoraum für Propaganda genutzt»

Jakob Tanner

Der Kampf um die politische Deutung der Vergangenheit wird auch in der Schweiz geführt. Historiker Jakob Tanner stellt einem Revisionismus, der sich mit einer problematischen Vergangenheit versöhnen will, einen anderen Ansatz gegenüber: Einen, der neue, kritische Fragen an die Vergangenheit stellt – weil sie noch immer unsere Gegenwart bestimmt.

Jakob Tanner (69) ist emeritierter Professor für die Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich. Tanner war Mitglied der Unabhängigen ExpertInnenkommission zur Untersuchung der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Zuletzt erschien von ihm die «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» (Beck, München, 2015).

Geschichtsschreibung war noch nie unschuldig. Mit dem Aufkommen rechtsnationaler und rechtsextremer Parteien und der Renationalisierung der Politik im Weltmassstab ist sie verstärkt zum ideologischen Kampfplatz geworden. Unterschiedliche politische Strömungen nutzen sie als Medium zur Sinnstiftung. Wer über historische Lufthoheit verfügt, sagt, wo es künftig langgeht.

Insbesondere die Deutung des Zweiten Weltkriegs, der nach wie vor zentraler Referenzpunkt erinnerungspolitischer Dispute ist, verändert sich. In Ungarn und Polen entlassen autoritäre Regierungen wissenschaftlich renommierte Museumsleitende, bauen Denkmäler um und konvertieren Nazikollaborateure in gute Patrioten. Ein Beispiel dafür ist die antisemitisch orchestrierte Vertreibung der Central European University aus Budapest.

Auch in Westeuropa manifestieren sich solche Tendenzen. 2005 beschloss die französische Nationalversammlung, dass Schulkindern fortan auch über Frankreichs «positive Rolle» in Afrika unterrichtet werden sollen – schliesslich soll die «Grande Nation» stolz sein dürfen auf ihre zivilisatorische Mission. Diese Deutungsversuche lassen sich unter dem Stichwort «Revisionismus» zusammenfassen.

Allerdings ist dieser Begriff im transatlantischen Vergleich politisch gegensätzlich aufgeladen. In den USA kommen «revisionistische» Interventionen von links. Hier geht es um die Zurückweisung der grossen Erzählung von den USA als dem auserwählten Land, in dem seit der Staatsgründung im 18. Jahrhundert Freiheit, Gleichheit und Wohlergehen für immer mehr Menschen erstritten wurden.

Kritiker und Kritikerinnen dieser Fortschrittsperspektive schlagen ein alternatives «Framing» vor, in dem Unterdrückung und Ausbeutung die Hauptrolle spielen. Im Brennpunkt der Debatte steht der Zusammenhang zwischen Sklaverei und Kapitalismus. «Revisionistische» Historikerinnen und Historiker betonen, basierend auf neuen Forschungen, dass der «Manchesterkapitalismus» und die «Mississippisklaverei» als zusammenhängendes System funktionierten und dass sich an der rassistischen Matrix der amerikanischen Geschichte seither wenig geändert habe.

Revisionismus der Verharmlosung 

Im deutschen Sprachraum wird mit «Revisionismus» etwas völlig anderes assoziiert. Zuerst fallen einem die Holocaustleugner und -leugnerinnen ein, die mit menschenrechtsverachtenden, antijüdischen Anwürfen auf sich aufmerksam machen. In vielen Ländern sind solche Strömungen präsent, die Nationalsozialismus und Faschismus verherrlichen oder verharmlosen, und die Gefahr von rechts bleibt akut.

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Doch inzwischen hat sich die Diskussion verschoben. Es ist ein Revisionismus im Aufwind, der die Verbrechen des Nationalsozialismus zwar nicht mehr rundweg bestreitet, sie aber als Episoden darstellt und die Verbrechen kleinredet. So verhöhnt der Rechtsextremist Björn Höcke von der Alternative für Deutschland die «dämliche Bewältigungspolitik», die «die deutsche Geschichte mies und lächerlich» mache, und fordert «eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad».

Das EU-Parlament verabschiedete 2019 eine Resolution «zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas». Der Text hält fest, «dass in einigen EU-Mitgliedstaaten Geschichtsrevisionismus betrieben wird und Personen verherrlicht werden, die mit den Nationalsozialisten kollaborierten». Das Europäische Parlament sei «bestürzt über (…) die Rückkehr von Faschismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit» und kritisiert, dass einige Regierungen – gemeint sind vor allem osteuropäische Mitgliedstaaten – solche Tendenzen auch noch unterstützen. Auch Russland wird aufs Korn genommen, weil dessen Regierung versuche, «historische Tatsachen zu verfälschen» und die von der ehemaligen Sowjetunion «begangenen Verbrechen schönzufärben».

Die Schweiz und der Zweite Weltkrieg  

Auch in der Schweiz ist der Zweite Weltkrieg noch immer Kristallisationspunkt geschichtspolitischer Kontroversen. Es ist ein Markenzeichen der hiesigen nationalen Rechten, dass sie sich nach 1945 vom Nationalsozialismus abgrenzte und ihren Einsatz für das, was sie unter Demokratie verstand, primär als Antikommunismus ausagierte.

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Etliche ehemalige rechtsextreme Frontisten tauchten in der Nachkriegszeit als senkrechte Eidgenossen wieder auf. Alle wollten sie damals im «Widerstand» gewesen sein – und wem das Gegenteil nachgewiesen werden konnte, der forderte oft ein «Recht auf Vergessen» ein.

Versuche der Umdeutung individueller Lebenswege gibt es bis heute. So liefert Thomas Zaugg in der kürzlich vorgelegten Biografie über Bundesrat Philipp Etter eine durchgängige Rechtfertigung dieses Langzeit-Bundesrates, der sich bei vielen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen im Zweiten Weltkrieg den Ruf als Anpasser erworben. Demgegenüber wird das Bild eines Magistraten gezeichnet, dessen Avancen gegenüber den Fronten und dessen antidemokratischen Aussagen nur «Taktik» gewesen sein sollen.

Ähnliche Umdeutungen nimmt Titus Meiers Studie über die P-26 vor. Diese Geheimorganisation bestand aus 400 BürgerInnen, unterteilt in über 80  Zellen, und verfügte über ein eigenes Waffenarsenal. Die 1990 eingesetzte (bürgerlich dominierte) Parlamentarische Untersuchungskommission sah in ihr eine «potenzielle Gefahr für die verfassungsmässige Ordnung» – Meier stilisiert die P-26-Mitglieder zu stillen Helden.

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Ausstellung im unterirdischen Treppenhaus des Museums Sasso San Gottardo, einer ehemaligen Festung

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P26 – Schweizer Geheimarmisten sollen rehabilitiert werden

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die P26 als geheime, aber legale Organisation, die das Überleben der Schweiz im Kalten Krieg sichern wollte. Ausstellung in einer alten Festung auf dem Gotthard-Pass.

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Doch im Unterschied zu Ländern wie Polen und Ungarn, wo der Geschichtsrevisionismus mit der Staatsmacht paktiert und zu einer ernsthaften Gefahr für die historische Wissenschaft geworden ist, ist die Schweizer Forschungslandschaft durch eine produktive Verbindung von fachlicher Kompetenz und Neugierde geprägt. In enger Auseinandersetzung mit öffentlichen Debatten werden laufend neue Themen und Quellenbestände einer transnationalen Geschichte der Schweiz erschlossen, eingebettet in eine globalisierte Theoriediskussion.

Mittlerweile liegen horizontöffnende Studien zur helvetischen Steueroase, zum Transithandel, zur postkolonialen Schweiz und zur Migrationsgeschichte vor. Anknüpfend an bisherige Forschungsarbeiten werden auch Unternehmen, Waffenproduktion und Zivilschutz, soziale Bewegungen sowie eine ganze Reihe von kultur-, geschlechter- und wissensgeschichtlich interessanten Themen untersucht.

Dabei sind die Grenzen zwischen akademischer und Amateurforschung durchlässig. So legten drei Journalisten vergangenes Jahr eine ausgezeichnet recherchierte Studie zu den «Schweizer KZ-Häftlingen» vor.

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Die vergessenen Schweizer Opfer

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht In den KZ der Nazis litten auch rund 1000 Schweizer. Das blutigste Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte ist bis heute kaum erforscht.

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Gleichzeitig veröffentlichte das breit angelegte Forschungsprojekt der Unabhängigen Expertenkommission «Administrative Versorgungen» seinen Schlussbericht. Erst am Anfang steht die Untersuchung der Mensch-Natur-Beziehungen, die das bisherige Verständnis historischer Prozesse herausfordert. Diese Aufzählung ist keineswegs vollständig.

Während der rechte Revisionismus alte Fragen in einem nationalen Interpretationsrahmen reproduziert, drückt sich in den neuen Forschungsansätzen das Recht einer jeden Generation aus, neue Fragen an die Vergangenheit zu stellen. So wird nicht nur der historische Wissensstand erweitert, sondern im medialen Resonanzraum das öffentlichkeitswirksame Geschichtsbild als Ganzes verändert.

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