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Getreideblockade im Schwarzen Meer: Was, wenn sie aufgehoben wird?

Grain fields in Ukraine
Ein Deal, der es der Ukraine ermöglicht, ihre Getreideexporte wieder aufzunehmen, ist dringend nötig. Die Erntesaison beginnt im Juli, aber die Lager sind immer noch voll mit dem Getreide des letzten Winters. In Somalia, das früher seinen gesamten Weizen aus der Ukraine und Russland importierte, sind wegen des Kriegs und der anhaltenden Dürre Hunderttausende von Menschen von einer Hungersnot bedroht. Copyright 2022 The Associated Press. All Rights Reserved

Die von der UNO und der Türkei geführten Verhandlungen mit Moskau und Kiew über die Wiederaufnahme der ukrainischen Getreideexporte über das Schwarze Meer machen Fortschritte. Doch selbst wenn es zu einer Vereinbarung kommen würde: Es könnte Monate dauern, bis sich die Welt von der Nahrungsmittelkrise erholt.

«In einer von globalen Krisen verdunkelten Welt gibt es heute endlich einen Hoffnungsschimmer», erklärte der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, am 13. Juli. Die Hoffnung, «den Hunger in der Welt zu lindern», keimte nach einer Verhandlungsrunde über die Aufhebung der Blockade der Lebensmittelexporte durch das Schwarze Meer auf, die zwischen russischen, ukrainischen, türkischen und UNO-Beamten geführt wurde.

Die UNO hatte wochenlang hinter den Kulissen gearbeitet, um einen Weg zu finden, die 22 Millionen Tonnen Getreide, die in ukrainischen Silos und Häfen festsitzen, sicher zu exportieren – das wäre genug, um den Jahresverbrauch der am wenigsten entwickelten Länder der Welt zu decken, wie The EconomistExterner Link berichtet. Guterres sagte, man habe eine «weitgehende Einigung» über viele «inhaltliche Aspekte» der Operation erzielt, betonte aber, dass für eine formelle Vereinbarung «mehr technische Arbeit» erforderlich sei.

Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar war sogar noch optimistischer und sagte, dass ein Abkommen noch diese Woche unterzeichnet werden könnte. Seine Äusserungen wurden am vergangenen Montag vom Chefdiplomaten der Europäischen Union, Josep Borrell, aufgegriffen. Dieser äusserte ebenfalls die Hoffnung, dass noch vor Sonntag eine Einigung erzielt werden könne.

Die genauen Details des Abkommens sind noch nicht bekannt, aber es ist wahrscheinlich, dass sich die Vereinbarung über Themen wie Minenräumung, Marine-Eskorten und Frachtinspektionen erstreckt. Wann sich die vier Delegationen erneut treffen, ist noch nicht bekannt.

Bislang hat Ankara erklärt, es werde die Sicherheit der Exportrouten gewährleisten, während die Konfliktparteien gemeinsam die Fracht vor dem Einlaufen in ukrainische Häfen inspizieren werden. In der Türkei soll ein Koordinationszentrum mit Russland, der Ukraine und den Vereinten Nationen eingerichtet werden.

Expert:innen warnen jedoch davor, dass es selbst bei einer heutigen Unterzeichnung des Abkommens wahrscheinlich Wochen oder Monate dauern würde, bis sich die von der Nahrungsmittelkrise am stärksten betroffenen Länder erholen würden. Das Abkommen selbst könnte sich zudem als sehr fragil erweisen.

Nahrungsmittelkrise

Die Ukraine produziert genug Getreide, um Hunderte von Millionen Menschen zu ernähren. Sie ist ein wichtiger Exporteur von Weizen, Mais und Sonnenblumenöl. Vor dem Krieg verliessen die meisten ukrainischen Lebensmittelexporte auf Schiffen die Schwarzmeerhäfen. Doch ukrainische Minen und russische Kriegsschiffe haben die Exportrouten über das Meer geschlossen.

«Wenn diese Häfen in der Region Odessa nicht geöffnet werden, ist das eine Kriegserklärung an die weltweite Ernährungssicherheit. Und das wird zu Hungersnöten, Destabilisierung und Massenmigration in der ganzen Welt führen», warnte der Leiter des UNO-Welternährungsprogramms (WFP), David BeasleyExterner Link, im Mai den UNO-Sicherheitsrat.

Die Blockade des Schwarzen Meeres verschärft die weltweite Nahrungsmittelkrise, die durch die Unterbrechungen wegen der Coronapandemie und den Klimawandel angeheizt wird. Die geringe Versorgung mit ukrainischem Getreide und die hohen Lebensmittelpreise sind eine schlechte Nachricht für die Länder Afrikas und des Nahen Ostens. Sie sind in hohem Masse auf Lebensmittelimporte aus der Ukraine angewiesen.

Das Horn von Afrika, das zum vierten Mal hintereinander mit einer ausgefallenen Regenzeit konfrontiert ist, wurde besonders hart getroffen. UNO-Organisationen haben davor gewarnt, dass in Somalia, das früher seinen gesamten Weizen aus der Ukraine und Russland importierte, Hunderttausende von Menschen von einer Hungersnot bedroht sind.

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Eine Einigung, die es der Ukraine ermöglicht, ihr Getreide wieder zu exportieren, ist also dringend nötig. Die Erntesaison beginnt im Juli, aber die Lager sind immer noch voll mit dem Getreide des letzten Winters. Es ist zu befürchten, dass dieses Getreide nun verrotten könnte. Und wenn die Landwirt:innen ihre Ernte nicht verkaufen können, können sie es sich möglicherweise nicht leisten, neues zu pflanzen oder zu ernten.

Am Dienstag warnte der ukrainische Landwirtschaftsminister in einem Gespräch mit der Financial TimesExterner Link, dass die Landwirt:innen in diesem Jahr zwei Drittel weniger anbauen werden, wenn keine Einigung erzielt werde. Eine solche Reduktion würde die künftige weltweite Nahrungsmittelproduktion gefährden, da der ukrainische Weizen 10 % aller ExporteExterner Link ausmacht.

Expert:innen für Ernährungssicherheit befürchten, dass eine Missernte in der Ukraine im nächsten Jahr die derzeitige Krise der Lebensmittelpreise in eine Krise der Nahrungsmittelverfügbarkeit in armen Ländern verwandeln könnte.

Die Leiter:innen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbankgruppe (WBG), des Welternährungsprogramms (WFP) und der Welthandelsorganisation (WTO) gaben letzte Woche eine gemeinsame ErklärungExterner Link ab, in der sie dringende Sofortmassnahmen, aber auch längerfristige Reformen zur Bewältigung der weltweiten Nahrungsmittelkrise forderten.

Zu den Empfehlungen gehören die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion in der ganzen Welt und Investitionen in eine klimaresistente Landwirtschaft.

Ein Deal und was dann?

Eine Einigung in dieser Woche würde jedoch nicht bedeuten, dass die Getreideexporte sofort wieder aufgenommen würden. Die Schifffahrtsindustrie muss sich neu organisieren und das Schwarze Meer muss entmint werden.

«Die Schiffe, die die Meere befahren, liegen nicht alle am Eingang zum Bosporus oder zu den Dardanellen und warten dort darauf, dass sich die Ukraine öffnet», sagt Florence Schurch, Generalsekretärin des Schweizerischen Handels- und Schifffahrtsverbandes (STSA). «Sie arbeiten weiter, die Handelsgesellschaften schicken ihre Schiffe weiter nach links und rechts. Der internationale Handel geht weiter.»

Selbst wenn es noch in dieser Woche zu einer Vereinbarung käme, würde es noch Monate dauern, bis sich die Schifffahrtsindustrie neu aufgestellt hätte und die ersten Schiffe ins Schwarze Meer einliefen, sagt Schurch.

«Darüber hinaus müssen die Häfen und Schifffahrtswege von Minen geräumt werden, die Händler:innen müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Kapitäne und Besatzungen sicher sind, und die Versicherungen müssen sich bereit erklären, all diese Schiffe und ihre Ladungen zu bezahlbaren Preisen zu versichern», so Schurch.

Laut Richard Gowan, UNO-Direktor bei der International Crisis Group in New York, haben die Vereinten Nationen solche Probleme bereits antizipiert, indem sie sich an ein «ungewöhnlich breites Spektrum von Kontakten» gewandt haben, zu denen auch Schiffsversicherungen gehören. Gowan weist auch darauf hin, dass Guterres ein «erstaunlich detailliertes Verständnis für Themen wie Minenräumung» hat.

Dennoch könnte die Räumung der Minen, um einen sicheren Korridor für Schiffe zu schaffen, einige Zeit in Anspruch nehmen – Wochen bis Monate, je nachdem, wie viele Minenräumschiffe mobilisiert werden und wie viele Minen sich im Wasser befinden, so ein Marineexperte gegenüber der New York TimesExterner Link.

Der Plan der UNO

«Ich glaube, die Türkei möchte, dass die UNO in diesen Prozess einbezogen wird, weil sie sowohl politische Legitimität als auch technisches Fachwissen in die Diskussionen einbringt», so Gowan. «Die Einbindung der UNO schafft zusätzliche Transparenz, da sie als eine Art neutrale ‹Schiedsrichterin› über die Bedingungen eines jeden Abkommens entscheiden kann», fügt er hinzu.

Das mangelnde Vertrauen zwischen Kiew und Moskau war bisher ein grosses Hindernis für eine diplomatische Einigung. Die Ukraine will die von ihr in den Häfen platzierten Minen nicht entfernen, ohne Garantien zu haben, dass Russland sie nicht angreift. Während Russland die Ladung von Schiffen, die ukrainische Häfen anlaufen, überprüfen will, um sicherzustellen, dass sie keine Waffen an Bord haben.

Moskau forderte zudem die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland, falls eine Einigung erzielt wird, was die westlichen Länder ablehnen. Die von der UNO und der Türkei erarbeitete Deal könnte Massnahmen zur Unterstützung der russischen Düngemittel- und Getreideexporte beinhalten. Russisches Getreide unterliegt keinen Sanktionen, aber viele Händler:innen und Banken haben sich aus Angst vor Geldstrafen von Geschäften mit Russland ferngehalten.

Schurch bestätigt, dass Getreidehändler:innen die Zusammenarbeit mit Russland eingestellt haben. Ihrer Meinung nach sind die Sanktionen der Europäischen Union, die die Schweiz übernommen hat, zu vage. Sie fordert Brüssel und Bern auf, ihre Position zu klären, damit die Händler:innen ohne Risiko arbeiten können.

Gemäss Gowan könnte die Vereinbarung, wenn sie denn zustande kommt, auch in Zukunft immer wieder in Frage gestellt werden. Er verweist auf den grenzüberschreitenden UNO-Mechanismus, der es humanitären Konvois ermöglicht, von der Türkei aus in die von den Rebellen gehaltenen Teile Syriens zu gelangen.

Anfang dieses Monats drohte Russland damit, den Mechanismus zu beenden, indem es sein Veto gegen eine zwölfmonatige Verlängerung des Mandats einlegte, bevor es schliesslich einer sechsmonatigen Verlängerung zustimmte. Dies wird die Planung von Hilfslieferungen erschweren.

«Ich bin mir sicher, dass Russland, selbst wenn ein Schwarzmeer-Getreideexportmechanismus geschaffen wird, häufig in Frage stellen wird, wie er verwaltet wird. Sie werden damit drohen, ihn abzuschalten. Russland weiss, wie man mit humanitärer Hilfe spielt», sagt Gowan.

Wenn alles scheitert 

Sollte der derzeitige Verhandlungsprozess scheitern, vermutet Gowan, dass die USA, Grossbritannien und Frankreich das Thema im UNO-Sicherheitsrat zur Sprache bringen werden, in dem die drei Länder als ständige Mitglieder zusammen mit Russland und China sitzen.

Seiner Meinung nach könnten die drei Länder eine Resolution einbringen, in der sie Russland dazu auffordern, die Wiederaufnahme der Getreideexporte aus den Schwarzmeerhäfen zu erlauben. Höchstwahrscheinlich würde Moskau dagegen sein Veto einlegen.

Dann müsste Russland jedoch seine Entscheidung vor der Generalversammlung erklären. Dies gemäss einer im Frühjahr verabschiedeten Resolution, die darauf abzielt, die ständigen Mitglieder, die von ihrem Vetorecht Gebrauch machen, stärker zur Rechenschaft zu ziehen. Im Gegensatz zum Sicherheitsrat hat in der Generalversammlung jeder Mitgliedstaat einen Sitz.

«Westliche Diplomat:innen werden Russland dazu bringen wollen, den afrikanischen und arabischen Ländern zu erklären, warum Moskau ihnen die Nahrung abschneidet», sagt Gowan.

Visualisierungen von Pauline Turuban

Editiert von Virginie Mangin und Imogen Foulkes

Übertragung aus dem Englischen: Melanie Eichenberger

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Gastgeber/Gastgeberin Balz Rigendinger

Was braucht es Ihrer Ansicht nach für den Wiederaufbau der Ukraine?

Was wäre in Ihren Augen auch noch wichtig oder eine absolute Priorität, um dem angegriffenen Staat eine gute Zukunft zu ermöglichen?

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Melanie Eichenberger

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