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Gewählte ohne Wahl: Sind «Stille Wahlen» ein Problem für die Demokratie?

Ein Mann zählt Stimmzettel in Appenzell-Innerrhoden
Das Auszählen der Stimmzettel im kleinsten Kanton Appenzell-Innerrhoden bei den Nationalratswahlen 2023. Keystone/gaetan Bally

Im neuen Schweizer Parlament sitzt ein Ständerat, der sich zuletzt 2015 einer Wahl stellen musste. Auch dieses Jahr kam der Obwaldner Erich Ettlin ohne Gegenkandidatur ins Amt. Ist das ein Problem?

Der neue und alte Ständerat Erich Ettlin hatte einen ruhigen Wahlsonntag. Denn die Wahl des Obwaldner Mitte-Politikers war klar, ohne dass Stimmzettel gezählt worden sind. Er war schlicht der einzige Kandidat.

In der Schweiz gibt es viele Gemeindepolitiker:innen, die auf diese Art ein Amt erlangen. Geht es aber um Sitze im eidgenössischen Parlament, führen solche «Stillen Wahlen» immer mal wieder für Stirnrunzeln. Da sich die Frage stellt, wie demokratisch abgestützt solche Politiker:innen sind.

Nicht wie in der Sowjetunion

Zugespitzt gesagt: Sind das Zustände wie in der Sowjetunion, in der die Diktatur mit ScheinwahlenExterner Link demokratisch geschminkt worden ist?

Ettlin schmunzelt angesichts der Frage: «Es wäre nur dann sowjetisch, wenn andere Kandidaturen verhindert worden wären.» Die Schwelle für eine Kandidatur im Kanton Obwalden ist sehr tief: Um anzutreten, braucht man bloss fünf Unterschriften von Stimmberechtigen. Bis zur ersten Septemberwoche konnte man sich anmelden. Doch es meldete sich einfach niemand.

Darum wurde Ettlin in «Stiller Wahl» gewählt. «Wenn mich jemand drauf anspricht, antworte ich: Ich trete ja an», sagt er, «Ich bin der letzte, der was dafür kann, dass es keine Wahl gegeben hat.»

Erich Ettlin blickt in die Kamera.
Mit dem Obwaldner Mitte-Ständerat Erich Ettlin hat es bei den Wahlen 2019 und den Wahlen 2023 niemand aufgenommen. © Keystone / Urs Flueeler

Niemand wollte Ettlin herausfordern. Im Ringen um den einzigen Nationalratssitz traten in Obwalden hingegen zwei Leute gegeneinander an. Doch beide – der freisinnige Herausforderer und die amtierende SVP-Nationalrätin Monika Rüegger – unterstützten im Wahlkampf Ettlin, den Ständerat aus der Mitte-Partei. «Die FDP und SVP haben gesagt, mit dem Erich sind wir zufrieden», so Ettlin. Das sei natürlich auch «taktisch».

Letzte Kampfwahl vor acht Jahren

Es ist üblich, dass sich Parteien bei Wahlen untereinander absprechen. Wie demokratisch ist das? Bereits vor vier Jahren konnte sich Ettlin am Wahlsonntag mangels Gegenkandidatur zurücklehnen.

Bei seiner ersten Wahl 2015 war das anders: Dieser Wahltag sei «ziemlich happig» gewesen, erinnert er sich. Damals traten Kandidat:innen von FDP und SVP gegen Ettlin an – und weil niemand die absolute Mehrheit erreichte, kam es zu einem zweiten Wahlgang.

Obwohl er 2023 in «Stiller Wahl» ins Amt gekommen ist, hat Ettlin zuvor eine Art Wahlkampf geführt, jede Gemeinde in Obwalden besucht. In einem kleinen Kanton – knapp 40’000 Menschen leben im Innerschweizer Urkanton – müsse man präsent sein.

An Feiern und öffentlichen Anlässen gehen die Leute auf Ettlin zu, erzählen, was ihnen politisch auf dem Herzen liegt. «Man kennt sich persönlich, man begegnet sich auf der Strasse», schildert Ettlin, «Das Menschliche spielt eine grössere Rolle. Das zeigt sich in grosser Hilfsbereitschaft, aber auch in einer gewissen sozialen Kontrolle.»

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Rudernationalmannschaft trainiert auf dem Sarnersee
Obwalden ist ein Bergkanton, der in der geografischen Mitte der Schweiz liegt. Hier trainiert die Rudernationalmannschaft auf dem Sarnersee. © Keystone / Urs Flueeler

Von aussen gesehen denke man vielleicht, eine «Stille Wahl» sei ein Hinweis auf «Klüngelwirtschaft», sagt Ettlin. Doch würde er sich in den Augen der Obwaldner Gesellschaft unangemessen benehmen, bekäme er das zu spüren. Obwaldner Politiker:innen, still gewählt oder mit dem Stimmzettel, stehen also auch nach Feierabend unter Beobachtung.

Also alles kein Problem? «Dass es keine Gegenkandidatur gibt, kann man durchaus auch als Akzeptanz und als positives Zeichen für die politische Arbeit werten», sagt Marc Bühlmann, Politologe und Direktor von Année Politique Suisse, dem Jahrbuch der Schweizer Politik. Wenn sich Parteien untereinander absprechen, für welche Sitze sie kandidieren, könne man das «Filz oder Klüngel» nennen. «Aber kleine Oppositionsparteien hätten ja stets die Möglichkeit anzutreten», sagt Bühlmann, «Und sie tun es auch immer wieder.»

«Eine Bedingung von Demokratie ist eine Auswahl»

Man könne aus demokratietheoretischer Sicht aber auch eine kritische Position einnehmen, führt Bühlmann aus: «Eine der Bedingungen für Demokratie an sich ist der Parteienwettbewerb und eine Auswahl von Kandidierenden für jedes Amt.» Das war dieses Jahr in Obwalden nicht gegeben. «Wäre die Schweiz eine rein repräsentative Demokratie ohne Abstimmungen, bei der man seinen Unmut äussern kann, könnte man das aus der Perspektive der empirischen Demokratiemessung also gar als ziemlich autokratisch betrachten.»

Marc Bühlmann spricht mit einem Handmikrofon.
Marc Bühlmann ist Professor an der Universität Bern und Direktor von Année Politique Suisse, dem Jahrbuch der Schweizer Politik. zur Verfügung gestellt

«Stille Wahlen» gibt es vor allem bei der Besetzung des 46-köpfigen Ständerats, der kleinen Kammer des Schweizer Bundesparlaments. Fast jeder Kanton hat seine  eigenen Regelungen, wann er auf einen Wahlgang verzichtet.

Bühlmann nennt ein besonderes Beispiel: «In Uri gibt es keine ‹Stillen Wahlen›, weil es keine Anmeldefrist gibt.» Theoretisch könnte dort also auch bei bloss einer einzigen Kandidatur am Wahlsonntag selbst noch eine andere stimmberechtigte, in Uri gewählt werden, wenn diese Person nur oft genug auf den Zettel geschrieben worden ist.

Die Abwahl von Jost Dillier 

Im Fall von Obwalden zeigt die Geschichte aber auch, wie es Politiker:innen ergehen kann, wenn sie sich ihrer Wiederwahl zu sicher sind: In den 1980ern ging der Obwaldner Ständerat und Ständeratspräsident Jost Dillier gerichtlich gegen kritische Stimmen vor.

Jost Dillier neben einem Blumengedenk im Bundeshaus
Da war er noch mächtig: Jost Dillier am Tag seiner Wahl zum Ständeratspräsidenten im Dezember 1981. Keystone / Str

Flugs wählte ihn das Volk ab – damals noch öffentlich versammelt, mit Hand erheben, an der Landsgemeinde. Bis heute ist Dillier schweizweit der einzige amtierende Ständeratspräsident, der abgewählt wurde.

Die Obwaldner:innen schauen ihren Volksvertreter:innen also durchaus auf die Finger. Der neue und alte Obwaldner Ständerat Erich Ettlin ist sich dessen bewusst.

Editiert von Balz Rigendinger.

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