Gewerkschaften: Lohnschere geht immer weiter auf
Kurz vor dem Tag der Arbeit, dem 1. Mai, veröffentlichen die Schweizer Gewerkschaften einen "Verteilungsbericht". Gestützt auf Zahlen von Bundesämtern zeigen sie auf, dass die Lohnungleichheit in der Schweiz zugenommen hat. Die Arbeitgeber relativieren.
Die Schweiz wird von Jahr zu Jahr reicher. Dennoch scheinen viele am Ende des Monats weniger Geld im Portemonnaie zu haben.
Bis heute war es nur eine oft geäusserte Vermutung, dass die Saläre der obersten Einkommensklasse im Vergleich zum Rest der Einkommen in den letzten 10 bis 15 Jahren überdurchschnittlich zugenommen haben.
Mit dem am Dienstag veröffentlichten Verteilungsbericht, in dem aktuelle Daten zur Lohn- und Vermögensverteilung analysiert werden, erhärtet der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) nun diese These, hat. Der Grossteil der Daten dieser Übersichtsstudie stammt vom Bundesamt für Statistik.
Demnach haben die bestbezahlten 10 Prozent der Erwerbstätigen zwischen 1998 und 2008 teuerungsbereinigt eine Lohnerhöhung von 10,3 Prozent erfahren. Bei den Super-Verdienern, dem obersten halben Prozent, betrug der Lohnzuwachs im gleichen Zeitraum sogar 28 Prozent. Derweil nahmen die tiefen und mittleren Löhne lediglich um 2 bis 4 Prozent zu.
SGB-Chefökonom Daniel Lampart sieht das Problem darin, dass sich «ein paar zehntausend Manager und Spezialisten auf Kosten der Mehrheit der Beschäftigten bereichern». So habe etwa die Zahl jener Leute, die eine Million Franken oder mehr Lohn pro Jahr bezögen, in den letzten 10 Jahren ungefähr um den Faktor fünf zugenommen.
Arbeitgeber: «Strukturelle Veränderungen»
Für Thomas Daum, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, liegt diese Zunahme eher in strukturellen Veränderungen. «Wir hatten in den letzten 5 bis 10 Jahren einen grossen Zustrom von internationalen Unternehmungen. Das hat selbstverständlich die Statistik beeinflusst», sagt er gegenüber swissinfo.ch.
«Wenn wir uns mit anderen Ländern vergleichen, ist die Lohnspreizung in der Schweiz nach wie vor moderat.» Zudem zahlten Gutverdienende auch höhere Steuern und Beiträge an Sozialwerke.
Den Grund für die zunehmende Öffnung der Lohnschere sieht SGB-Präsident Paul Rechsteiner, der als Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei (SP) auch im Parlament sitzt, in einer falschen Steuerpolitik: «Man hat die Steuern gesenkt für die hohen Einkommen und die grossen Vermögen. Die Erbschaftssteuer ist weitgehend abgeschafft worden, die kantonalen Vermögenssteuern sind gesenkt worden», sagt er gegenüber swissinfo.ch.
SGB: «Bonus-Modell begünstigt Lohnschere»
Ein Befund im Verteilungsbericht lässt aufhorchen: Die Lohnschere öffnet sich laut dem Bericht am meisten in jenen Branchen, die am stärksten auf Bonuszahlungen setzen, namentlich Banken und Versicherungen. «Je höher der Anteil der Boni an der Gesamtlohnsumme, desto ausgeprägter die Lohnschere», sagt Lampart.
Daum hingegen verteidigt das Bonus-System: «Wenn man jetzt die Boni abschaffen wollte, hiesse das nichts anderes, als dass ein grosser Teil dieser hohen und höchsten Löhne zu Fixlöhnen würden, und damit den Unternehmungen eine wesentliche Möglichkeit verloren ginge, bei schlechtem Geschäftsgang auch zu reagieren, die variablen Lohnanteile, sprich Boni, zu reduzieren.»
Der Verteilungsbericht weiss aber auch Positives zu berichten: So hätten die Lohnunterschiede im Detailhandel und im Gastgewerbe verkleinert werden können. Und in Branchen mit «guten» Gesamtarbeitsverträgen und einer aktiven Mindestlohn-Politik habe man verhindern können, «dass die hohen Saläre den mittleren und tiefen ganz davonziehen», wie es im Bericht heisst.
Streit um Mindestlohn
Der Gewerkschaftsbund fordert deshalb eine politische Wende, vorab in der Einkommenspolitik, wo er Mindestlöhne fordert. «Diese sorgen dafür, dass der Lohndruck gegen unten aufgefangen werden kann», sagt Rechsteiner.
Der SGB setzt sich für mindestens 22 Franken pro Stunde oder 4000 Franken im Monat ein, wie er auch in seiner kürzlich lancierten Mindestlohn-Initiative fordert, für die derzeit Unterschriften gesammelt werden. Zudem sollten anstelle von Boni eher 13. Monatslöhne ausbezahlt werden.
Weiter will der SGB bestehende Gesamtarbeits-Verträge (GAV) stärken, «und es braucht generelle Lohnerhöhungen, reale Lohnerhöhungen in diesem Lohnherbst für alle, um dieser Einkommens-Ungleichheit die Spitze zu brechen», so Rechsteiner.
Arbeitgeber-Präsident Daum widerspricht dieser Forderung entschieden: «Wir sind der Meinung, dass Mindestlöhne, die so hoch angesetzt werden, wie das der Gewerkschaftsbund in seiner Initiative fordert, mehr Stellen vernichten, als dass sie einzelnen Personen zu mehr Lohn verhelfen.»
Laut Angaben des Gewerkschaftsbundes, der sich hauptsächlich auf das Bundesamt für Statistik stützt, ist die Anzahl der «Gehalts-Millionäre» zwischen 1997 und 2008 von 510 auf 2824 Personen gestiegen.
Die bestbezahlten 40’000 Personen konnten ihren Reallohn um über 20% erhöhen, während tiefe und mittlere Einkommen in der gleichen Zeit um rund 2 bis 4% gestiegen sind.
Gemäss dem Verteilungsbericht besassen 1997 die Reichsten 4,3% gleich viel, wie der Rest der Bevölkerung. 2007 besassen 2,2% gleich viel wie der Rest.
Ein Beispiel aus der Praxis erläutert Giorgio Tuti, Präsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV sowie SGB-Vizepräsident.
Die Schweizerischen Bundesbahnen hätten seit zwei Jahren keine generelle Lohnerhöhung mehr ausgesprochen, sondern Einmalprämien ausbezahlt.
«Das ist nicht nachhaltig und führt zu Kaufkraftverlust und Mehrabzügen bei einem nur kurzfristig höheren Lohn», sagt er.
Daher plane der SEV im Herbst eine Kampagne unter dem Motto: «Stopp den Prämien».
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch