Explainer: Gibt es in der Schweiz keine politische Opposition?
In der Schweiz sind immer alle grossen Parteien an der Regierung beteiligt. Wer schaut den Minister:innen da noch auf die Finger? Eine Übersicht über die Opposition in der Schweiz mit Professorin Silja Häusermann.
Mitte Dezember wählt das Schweizer Parlament einen neuen Minister oder eine neue Ministerin – einen Bundesrat. Dass es ein Mann wird, ist ziemlich sicher. Welcher Partei er angehören wird, gilt als noch sicherer. Dies, weil in der Schweiz seit über 60 Jahren fast ohne Unterbruch die vier grössten Parteien, zusammen die Regierung bilden. Sie arbeiten als Minister:innen zusammen, ungeachtet grosser Unterschiede in den Weltbildern und Meinungen.
Vier von fünf Parlamentarier:innen im Nationalrat gehören einer Partei in der Regierung an. Im klassischen Sinn ist die Opposition in der Schweiz also sehr klein: Die momentan grösste Partei im Parlament ohne Sitz in der Regierung ist die Grüne Partei, die knapp 10% der Wähler:innen auf sich vereint. Im historischen Vergleich ist die Opposition im Moment für schweizerische Verhältnisse sogar gross.
Eine übermächtige Regierung?
Es gibt zwar auch ausserparlamentarische Bündnisse, die genug Anhänger:innen mobilisieren können, um Volksabstimmungen herbeizuführen – in den letzten Jahren etwa die Gegner:innen der Pandemieschutzmassnahmen.
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Doch auf den ersten Blick scheint die Schweiz eine der dominantesten Regierungen aller Demokratien zu haben.
«Nein, die Regierung in der Schweiz ist nicht dominant», klärt Silja Häusermann. Häusermann ist Professorin für Schweizer Politik an der Universität Zürich.
Der Grund liegt darin, dass die Schweizer Regierung keine Möglichkeiten hat, im Parlament Zustimmung einzufordern. «Sie kann dem Parlament zum Beispiel nicht mit Neuwahlen drohen, wie das ein regulärer Premierminister tun könnte.» Die Regierung muss gegenüber dem Parlament also auf Überzeugungskraft setzen.
Ein Faktor, der den möglichen Druck auf Parlamentarier:innen weiter aufweicht ist, dass die Regierung ihre Entscheidungen und Vorschläge gemeinsam trifft. Weil sie dies «als Kollegialgremium» tut, wie es Häusermann ausdrückt, können die Regierungsvorschläge «keiner Partei eindeutig zugeordnet werden».
Die sieben Bundesrät:innen entscheiden sich an der wöchentlichen Regierungssitzung für einen unter mindestens vier Mitgliedern abgestützten Kompromiss. In den meisten Fällen vertreten die Regierungsmitglieder diesen in der Folge gegen aussen, ohne zu murren.
Darum fühlen sich die Parlamentarier:innen von Regierungsparteien selbst dann nicht an eine Regierungsvorlage gebunden, wenn diese im Zuständigkeitsbereich von einem Minister oder einer Ministerin ihrer eigenen Partei liegt.
Hinterfragen der Regierung mit Volksrechten
In keinem Land der Welt gibt es so häufig Volksabstimmungen wie in der Schweiz. Schweizer Bürger:innen können ihre Meinung oder auch einfach ihre Unzufriedenheit regelmässig zum Ausdruck bringen.
Mit Referenden kann man in der Schweiz gegen eine vom Parlament und der Regierung beschlossene Änderung von Gesetzen vorgehen; mit Initiativen sogar eine neue Änderung der Verfassung zur Volksabstimmung bringen. Für Häusermann verstärken Initiativen und Referenden «den Druck darauf, einen breiten Kompromiss zu suchen».
Und im Umkehrschluss befindet sie: «Jedes Referendum ist letztlich Ausdruck eines gescheiterten Konsensfindungsprozesses.»
Opposition durch die Regierungsparteien
Zum Beispiel als letztes Jahr die linke SP das Referendum gegen die Rentenreform ihres eigenen Bundesrats Alain Berset ergriffen hat. In der Schweiz ist das normal: Die Partei tritt gegen eine Vorlage an – und der Minister aus der Partei ist das öffentliche Gesicht der Vorlage. «Gleiches hat die SVP gemacht in der Klimapolitik, wo sie gegen ihren eigenen Bundesrat angetreten ist.»
Die SP als linkste und die SVP als rechteste Regierungspartei fühlen sich «als Polparteien» laut Häusermann «insbesondere (…) nicht an die Regierungsvorlagen gebunden und können ohne negative Konsequenzen davon abweichen».
Somit findet in der Schweizer Politik die politische Polarisierung zu einem beträchtlichen Teil zwischen den an der Regierung beteiligten Parteien statt. Eine Polarisierung, die sich, so Häusermann, «natürlich auch rhetorisch» zeige.
Die heftigste Form dieser rhetorischen Polarisierung zeigte sich, als Vertreter der SVP, die zwei von sieben Regierungsmitglieder stellt, während der Pandemie den Schweizer Gesundheitsminister einen «Diktator» nannten. Auch von Seiten des SP-Präsidiums werden immer wieder Vorwürfe an die Regierung formuliert.
Es gibt in der Schweiz somit eine gewisse Gleichzeitigkeit von Regierungsverantwortung und Oppositionsverhalten. Am stärksten zum Ausdruck kommt dies in den regelmässigen Volksabstimmungen. Bei jeder Abstimmung formieren sich die Parteien in neuen Bündnissen.
Häusermann verweist auf den Berner Politikwissenschaftler Adrian Vatter, der aufgezeigt hat, wie sich die Regierungsparteien in einzelnen Abstimmungen zunehmend uneiniger sind: In fast 80% der Abstimmungen haben die vier Bundesratsparteien Ende der 1970er-Jahre die gleiche Meinung empfohlen. Heute geht dieser Wert gegen null.
«Aufgrund der Polarisierung» gebe es «kaum noch Vorlagen im Parlament», bei denen nicht entweder die SP oder die SVP von der Haltung der Regierung abweicht. Häusermann stellt fest: «De facto sind in der sehr gespaltenen Parteienlandschaft der Schweiz die Polparteien SP und SVP die wichtigste Opposition.»
Ein wichtiger Teil der Opposition in der Schweiz sind also bemerkenswerterweise die Regierungsparteien.
Editiert von David Eugster.
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