Glarus: Ein Kanton krempelt sich um
Seit 100 Tagen sind die ehemals 25 Gemeinden des Kantons Glarus nur noch zu dritt. Die radikale Gemeindefusion hatte nach dem Entscheid der Landsgemeinde hohe Wellen in der ganzen Schweiz geworfen. Wie sieht es heute im Kanton aus? Ein Augenschein.
Hoch über dem Tal liegt Braunwald. Das Dorf ist nur mit einer Standseilbahn erreichbar.
Seit dem 1. Januar 2011 ist Braunwald keine eigenständige Gemeinde mehr, sondern Teil der Gemeinde Glarus Süd, zusammen mit weiteren Dörfern in den hintersten zwei Tälern des Kantons.
Glarus Süd ist seit der Grossfusion im Kanton die flächenmässig grösste Gemeinde der Schweiz. Trotzdem ist im autofreien Braunwald an diesem nebelverhangenen Tag fast niemand unterwegs.
«Ich finde es positiv», sagt Guido Ruckstuhl, der seinen Einkauf nach Hause trägt, auf die Gemeindefusion angesprochen. Die Veränderungen seien bisher kaum spürbar. «Aber vielleicht merkt man es erst mit der Zeit etwas mehr.»
Man habe bereits während der Übergangszeit Veränderungen bemerkt, sagt eine Dame mittleren Alters. Auch sie hatte der Fusion zugestimmt. Vier Jahre gaben sich die Gemeinden Zeit, den Übergang umzusetzen. «Von den Strukturen her macht es sicher vieles einfacher», ist sie überzeugt.
Der 35-jährige Patrick Kistler ist auf dem Heimweg. Er hat noch nicht viel von der Fusion bemerkt. «Ausser, wenn man etwas von der Gemeinde braucht, muss man halt jetzt nach Schwanden reisen, statt dass man es hier oben erledigen kann. Das ist etwas mühsam.» Trotzdem: Auch er war ein Befürworter.
Die Fusion
Glarus, einer der letzten zwei Schweizer Kantone mit einer Landsgemeinde, hatte 2006 von dieser einen Auftrag erhalten: Statt den Vorschlag der Regierung zur Verkleinerung auf 10 Gemeinden hiess das Stimmvolk eine radikale Variante gut: Aus 25 mach 3.
Das Resultat schien derart unglaublich, dass die Regierung die Stimmenzahl dreimal schätzen liess (An der Landsgemeinde werden die Stimmen nicht gezählt, sondern geschätzt).
Trotzdem musste die Fusion bis zur Umsetzung noch einige Hürden nehmen. Einem Komitee gelang es, eine ausserordentliche Landsgemeinde zu erzwingen. Die zweite Abstimmung bestätigte 2007 die Fusion mit einer Zweidrittels-Mehrheit. Parallel dazu gingen zwei Bürger vor Bundesgericht gegen die Fusion vor. Auch sie unterlagen.
«Demokratieverlust»
Einer von ihnen ist Erich Leuzinger, der im Kantonshauptort Glarus eine Anwaltskanzlei führt und während langer Zeit Gemeinde- und Kantonalpolitiker war.
«Ich musste zur Kenntnis nehmen, dass die Umsetzung in den letzten Jahren gut funktionierte. Da kann ich mich eigentlich, entgegen den Erwartungen, nicht beklagen», räumt er ein. Trotzdem bleibt er bei seiner Meinung: «Die jetzigen Strukturen, bei denen die Gemeinden eigentlich Bezirke sind, sind unseren Verhältnissen nicht angepasst.»
Das Problem sind für ihn nicht längere Wege für Behördengänge. Das erübrige sich mit modernen Kommunikationsmitteln oft. Die Verwaltung werde aber anonymer, der persönliche Kontakt gehe verloren. «Der Landwirt in Braunwald wird nur im äussersten Fall nach Schwanden gehen.»
Für Bürgerinnen und Bürger ein weit grösseres Problem ortet er in einem «Demokratieverlust» an den Gemeindeversammlungen: «Ich gehe davon aus, dass wir eine Stimmbeteiligung von wenigen Prozenten an diesen Gemeindeversammlungen haben. Und dass eigentlich gar keine Diskussionen mehr geführt werden.»
Er habe eine grosse Resignation beobachtet. Die Leute hätten Angst, nicht mehr gehört zu werden.
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Landsgemeinde
Leute motivieren
Thomas Hefti, Gemeindepräsident von Glarus Süd, widerspricht dieser Ansicht. «Einen Demokratieverlust gibt es nicht», sagt er im Ratsherrenhaus Mitlödi, wo er mit seinem Team arbeitet. Die Leute könnten mitmachen wie bisher.
Das Problem sei, «dass es wahrscheinlich Leute gibt, die sich sehr für ihre Ortschaft interessiert haben und jetzt ein bisschen enttäuscht sind oder sagen, ‹das Grosse ist mir eher egal›. Das ist schade».
Es liege nun an den Gemeinden, die Leute gut zu informieren und ihr Interesse zu wecken. Trotzdem: «Letztlich müssen sich die Leute selber interessieren», ist er überzeugt.
Dem pflichtet Patrick Kistler in Braunwald zu: «Ich kann mein Recht wahrnehmen, wenn ich will. Aber wahrscheinlich ist die Faulheit grösser, so dass man nicht runterspringt, wenn es nicht etwas wahnsinnig Interessantes zu besprechen gibt.»
Noch zu früh für Bilanz
Eine erste Bilanz der Fusion zu ziehen, hält Hefti für verfrüht. Chancen sieht er besonders in der besseren Raumplanung.
Klar sei jedoch: «Es braucht Zeit und Geduld, um die Vorteile des grösseren Raumes zu nutzen – über Jahrzehnte.»
Auch Urs Kundert, Leiter der kantonalen Fachstelle für Gemeindefragen, will noch keine Bilanz ziehen. Er hat relativ viele Rückfragen aus den Gemeinden verzeichnet, die meisten haben mit der Umstellung des Rechnungslegungs-Systems zu tun.
Eine positive Seite ist für ihn, der schon beim Vorprojekt mitarbeitete und die Fusion seit Jahren eng begleitet hat, die Ausstrahlung auf den Rest der Schweiz.
«Man spürt, dass die Reformfreudigkeit in der Schweiz allgemein zugenommen hat und ein richtiger Schub für Reformen durch die Schweiz gegangen ist», sagt er im kantonalen Verwaltungsgebäude in Glarus.
Dieser Beobachtung pflichtet die Glarner Kantonsregierung in ihrem Schlussbericht vom 11. April zu: Das Image des Glarnerlands habe sich positiv verändert und die Mitarbeit in den Gemeindebehörden habe an Attraktivität gewonnen.
Die Gemeindefusion im Kanton Glarus ist eine Strukturreform.
Nach einem Landsgemeinde-Entscheid wurden die 25 bisherigen Gemeinden auf den 1. Januar 2011 in drei Einheits-Gemeinden umgewandelt.
Die drei neuen Gemeinden sind weitgehend autonom, das Sozial- und Asylwesen ist neu beim Kanton angesiedelt.
Zum Ausgleich der unterschiedlichen Gemeindevermögen hat die Landsgemeinde 20 Mio. Fr. gesprochen.
Für die Gemeindeangestellten hat der Kanton eine Ombudsstelle geschaffen.
Während sich der Kanton Glarus eine radikale Diät verordnet hat, haben Fusionen nicht in allen Kantonen gleich grosse Chancen, durchzukommen.
Im Oberwallis wurde Anfang 2011 die Grossfusion von sechs Gemeinden an der Urne abgelehnt. Dies, obwohl sich im Vorfeld keine Partei oder Organisation dagegen ausgesprochen hatte. Befürchtet wurden namentlich Steuererhöhungen.
Im Kanton Graubünden plant das Kantonsparlament eine «historische Reform»: Aus den bisher 178 Gemeinden sollen bis 2020 zwischen 50 und 100 Gemeinden werden. Das letzte Wort wird allerdings auch hier die Bevölkerung haben.
Im Kanton Bern ist derzeit die Fusion von acht Gemeinden im Berner Mittelland in einem Mitwirkungs-Verfahren, nachdem das Stimmvolk Ende 2009 diese Abklärungen gutgeheissen hatte.
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