Globale Demokratie: Mehr als utopisches Gerede?
Obwohl es wie eine Utopie klingt, gibt es etliche Menschen, die sich für eine weltweite Demokratie engagieren. In der Schweiz wird bereits laut über eine Volksinitiative zum Thema nachgedacht.
Viele Podiumsdiskussionen am Global Forum on Modern Direct Democracy 2022 in Luzern wirken wie gestückelte Vorträge. Eine Person redet fünf Minuten am Stück, nach der nächsten Moderationsfrage dann die nächste. Doch ein Anlass ist überbordend und bricht mit dem Normen. Bei den Teilnehmer:innen hat er eine Hoffnung geweckt: die Idee einer globalen Demokratie über Landesgrenzen hinweg.
Etwas versteckt, im Klubkeller des «Neubad Luzern», finden gut 30 Leute zusammen. Veranstalterin ist Lucy Koechlin. Die Korruptionsexpertin bringt ihr Ziel auf eine klare Losung: «Meine Idee ist nicht provokant, sie ist selbstverständlich: Jede Person, in diesem Land, dieser Welt, soll über globale Fragen abstimmen können.” Koechlin ist für den Verein GloCo, kurz für Global Community, hier. Dem Verein gehören Personen in der Schweiz und den USA an. Der Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch ist sein prominentestes Mitglied.
Im Keller ist Stühlerücken angesagt. Koechlin fordert die Anwesenden dazu auf, aus den Stuhlreihen einen Kreis zu bilden. Sticker werden verteilt. Rote und Grüne. Manche kleben sich beide an die Brust, eine einzige Person traut sich und wählt den roten Aufkleber. Die überwältigende Mehrheit wählt den grünen. Dieser Sticker steht für eine Hoffnung: «Global Democracy will solve global Problems» steht drauf.
Im Stuhlkreis sollen alle mitreden. Zum Einstieg soll sich jede Person selbst die Frage stellen, was es bräuchte, damit sie sich als Weltbürger:in fühlen könnte. Koechlin fordert, dass man dabei «mit dem Herzen denkt».
Eine Lösung für weltweite Probleme?
Globale Demokratie wirkt wie eine ferne Utopie. Mit dem Souveränitätsverlust von Staaten gehen Ängste einher. Zudem ist selbst die nationale Demokratie nicht die Norm: Gemäss dem Demokratie-Index von «The Economist» lebten 2021 nur 45,7% der Weltbevölkerung in einer Demokratie. Der Anteil sinkt: 2020 waren es noch 49,4%. Das ist den meisten Fürsprecher:innen der Weltdemokratie bewusst.
Aber ihr Fokus bleibt ein anderer. Die Ist-Situation spiegelt auch nicht unbedingt, was sich die Mehrheit der Weltbevölkerung wünscht. Es gibt Studien, die die Perspektive der Weltdemokrat:innen stützen. Eine BefragungExterner Link im Auftrag der britischen BBC von 2016 zeigte hohen Zuspruch für das Konzept «Global Citizen»: 51% der Befragten in 18 Ländern gaben an, sich überwiegend als solche zu empfinden. In Nigeria (73%), China (71%), Peru (70%) und Indien (67%) waren die Werte besonders hoch.
Zitiert wird von Weltdemokrat:innen auch die Untersuchung der schwedischen NGO «Global Challenges Foundation» von 2017: Nach dieser gewichteten Befragung in acht Ländern – darunter die USA, aber auch China und Indien – fühlen sich drei Viertel als Weltbürger:innen. 59% waren in der Befragung dafür, dass ihr Land einen Teil seiner Souveränität aufgibt zugunsten von globalen Strukturen, die weltweite Probleme besser angehen können.
Der Stuhlkreis ist Teil einer ganzen Reihe von Veranstaltungen zu globaler Demokratie am Global Forum. Da erfährt man auch, was die Rolle von Staaten in einer globalen Demokratie sein könnte.
«Staaten werden weiterhin eine demokratische Bedeutung haben, so wie Gemeinden in der heutigen Demokratie eine Bedeutung haben», sagt Stefan Kalberer von Democracy without Borders auf einem der Podien in Luzern. Aussagen, die anderswo radikal oder revolutionär klingen, erscheinen im Umfeld der Demokratie-Aktivist:innen als nüchterne Feststellungen. Wahlen werden in Ländern gewonnen. Für Kalberer ist das der Grund, warum globale Demokratie nicht häufiger Thema ist. «Kein:e Politiker:in hat ein Interesse daran, solche Ideen zu bewerben. Das System ist dafür nicht gebaut.»
Beispiel: Die Europäische Bürgerinitiative
Die Ideen, wie die Weltdemokratie aussehen soll, sind breit gefächert: Sie reichen von einer UNO mit echter Macht über international anerkannte Bürgerpanels bis zu einer virtuellen Demokratie.
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Zurück im Stuhlkreis skizziert Daniela Vancic von Democracy International, wie die Europäische Bürgerinitiative auf eine weltweite Ebene gehoben werden könnte. Die Europäische Bürgerinitiative ist das erste transnationale Demokratieinstrument: Eine Million EU-Bürger:innen aus mindestens sieben Staaten müssen innert eines Jahrs ein Anliegen unterschreiben. Doch kommen diese Unterschriften zusammen, folgt keine Volksabstimmung. Die EU-Kommission muss sich lediglich mit dem Anliegen befassen. Demgegenüber hätte die «UNO-Bürgerinitiative», wie Vancic die angedachte internationale Variante nennt, das zusätzliche Problem, dass die Macht der UNO beschränkt ist.
Danach fordert die Umweltwissenschaftlerin und Klimaaktivistin Alexandra Gavilano, dass die Bürgerpanels zu Klimathemen national und global anerkannt werden und möglichst viel Umsetzungskraft erlangen. Da hängt sich der Aktivist Jon Stever ein, der das Projekt «Global Assembly» vorstellt: Vergangenes Jahr diskutierten 100 Leute aus der ganzen Welt – das Los hat sie bestimmt – über Klimaschutzmassnahmen.
«Global Assembly» wirbt auf seiner Webseite mit UNO-Generalsekretär António Guterres, der das Projekt als «praktischen Ansatz» gelobt hat, wie man Handeln durch «Solidarität und die Macht des Volkes beschleunigen» könne. Trotz dieser institutionellen Unterstützung: Im Stuhlkreis wirkt Stevers Einschätzung, wie Projekte wie das «Global Assembly», Bürgerpanels und das Internet zusammenwirken, gar optimistisch. «Wir haben einen globalen Gesetzgeber geschaffen. Jetzt brauchen wir eine globale Verfassung», begeistert er sich.
Der Optimismus und die vielen grünen Sticker haben etwas Surreales. Neben Zuspruch beleben auch kritische Nachfragen die Diskussion im Keller, etwa dazu, ob die Dominanz der Techkonzerne der Weltdemokratie im Weg stehe. Neben der Umsetzung sorgt auch für Fragezeichen, auf welcher politischen Ebene sich Befürworter:innen einer Weltdemokratie engagieren sollen. Die Diskussion ist intensiv.
Eine Schweizer Volksinitiative als Anfang?
Der Polit-Campaigner Daniel Graf richtet seinen Blick an die Kellerdecke, als er seine Vision schildert. Nach oben schaut man, wenn man sich etwas visuell vorstellt.
Das Leiten von Sammel- und Polit-Kampagnen sei ein pragmatischer Beruf. Aber manchmal widme er sich dem Tagträumen. «In Zeiten der Krise ist Tagträumen wichtig.» Graf zieht den Bogen zum 19. Jahrhundert. Damals hätten die Verfechter:innen des als «internationale Sprache» geplanten Esperanto davon geträumt, die Sprachgrenzen einzureissen. «Heute macht jedes Smartphone Live-Übersetzungen.» Technisch sei eine weltweite Demokratie jetzt möglich.
Graf verfolgt die Idee einer virtuellen Demokratie. Wenn genug Menschen abstimmten, hätte die Entscheidung Gewicht – unabhängig von staatlichen Strukturen. Wenn jede Person sicher und eindeutig identifizierbar auf eine Webseite kann, könnten alle zusammen abstimmen. Als Polit-Campaigner in der Schweiz ist der erste Schritt hin zur Weltdemokratie für ihn: eine Schweizer Volksinitiative. Über eine solche denkt er nun nach.
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«Ich bin zuversichtlich, dass eine Initiative für eine globale Demokratie mehrheitsfähig ist», führt Graf gegenüber swissinfo.ch mit Verweis auf die lange Tradition internationaler Organisationen in der Schweiz aus. «Die Schweiz wäre das erste Land auf der Welt, dass die Vision einer globalen Demokratie in die Verfassung schreibt.» Graf stellt sich vor, dass die Schweiz in einem ersten Schritt dann Pilotprojekte für die globale Demokratie fördert.
«Ein Beispiel wäre die Welt-Bürger:innenschaft. Die Schweiz könnte mithelfen, dass jeder Mensch auf der Welt eine globale gültige E-ID erhält.» Diese wäre Voraussetzung, «um eine Stimme zu haben und in Zukunft bei globalen Themen mitzuentscheiden.»
Was man auch immer von der Idee halten mag: Die Schweizer Stimmberechtigten sind bisher nicht für ihre Sympathien für globale Strukturen und internationalen Organisationen bekannt. Wie Bürger:innen autokratischer Staaten eine E-ID nutzen sollten, ohne sich ihrem Staat auszuliefern, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Schauen Sie auch unsere Video-Interviews vom Global Forum on Modern Direct Democracy in Luzern:
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