Glücklich, aber noch nicht ganz frei
Während in den USA bald ein erster Prozess um einen ehemaligen Guantanamo-Gefangenen beginnt, haben die Behörden im Kanton Jura eine erste Bilanz über den Aufenthalt zweier uigurischer Brüder gezogen. Die beiden Ex-Häftlinge fanden im letzten März in der Schweiz Aufnahme.
Vor einem halben Jahr haben sie das Gefängnis in Guantanamo verlassen. Während siebeneinhalb Jahren, zwei davon in Isolationshaft, durchlebten sie eine Art Vorhölle: Gefangen ohne Anklage und ohne Urteil.
Jetzt, in der Schweiz, versuchen sie, diesen tragischen Lebensabschnitt hinter sich zu bringen und ein neues Leben zu beginnen.
Die Brüder Arkin und Bahtiyar Mahmut, zwei Uiguren, stammen aus der turksprachigen muslimischen Minderheit im Nordwesten Chinas. Seit dem 23. März 2010 leben sie im Kanton Jura.
Ihr Bedürfnis nach Freiheit ist gross, ist aber in einem fremden Land ein schwieriger und mühevoller Weg.
Ihre Integration erfolgt in erster Linie über die Sprache: «Viermal wöchentlich belegen sie mit anderen Studenten einen Französischkurs. Dazu kommen zwei private Lektionen pro Woche», sagt Francis Charmillot, Leiter der jurassischen Vereinigung zum Empfang von Migranten (AJAM), gegenüber swissinfo.ch.
Zur Zeit ist ihr Französisch noch etwas holprig und genügt noch nicht ganz für ein Gespräch. Doch ermöglicht es ihnen ein unabhängiges Leben: Sie besorgen ihre Einkäufe, und nutzen den öffentlichen Verkehr, um in der Schweiz zu reisen. Doch kostet diese Freiheit auch.
«Sie mussten zuerst lernen, wie man hier einkauft, unsere Produkte nutzt und mit einem Haushaltsbudget auskommt. Auch das Benutzen eines Fahrrads war nicht ganz einfach, denn erst mussten sie die Verkehrsregeln und Signale lernen,» so Charmillot.
Nicht allein
Diese Probleme teilen sie mit vielen, die sich in einem fremden Land ein neues Leben aufbauen müssen. Arkin und Bahtiyar können aber auf die Unterstützung der rund 80 in der Schweiz lebenden Uiguren zählen.
«Ich und andere Uiguren treffen Arkin und Bahtiyar regelmässig», sagt Endili Memetkerin, Präsident der Schweizer Vereinigung Ost-Turkestan. «Manchmal sind sie zum Essen eingeladen. Bahtiyar, der Jüngere, war auch an der letzten Zusammenkunft der uigurischen Gemeinschaft in Bern dabei.»
Sie seien glücklich, in der Schweiz zu leben, und wüssten, deshalb privilegiert zu sein. «Die anderen 20 Uiguren, ebenfalls Guantanamo-Gefangene, hatten weniger Glück.»
Vier fanden Asyl auf den Bermuda-Inseln, fünf in Albanien, sechs in Palau im Pazifik (Mikronesien). Und fünf befinden sich immer noch in Guantanamo und warten auf eine Lösung.
«Der Umstand, dass sich die beiden hier wohlfühlen, hilft natürlich bei ihrer Integration mit», so Memetkerim.
Integration auf zwei Spuren
Zuerst teilten sich die beiden eine Wohnung. Dann, Ende April, wünschten sie, separat zu leben. «Für einen 46- und einen 34-Jährigen ein absolut legitimer Wunsch», sagt Chamillot. Heute leben sie in zwei Kilometern Entfernung voneinander, einer in Delsberg und der andere in Courroux.
Bahtiyar, der Jüngere, scheint sich schneller zu integrieren. Bei der Caritas in Delémont hat er einen dreimonatigen Berufskurs begonnen, den er aber wegen Sprachschwierigkeiten abgebrochen hat.
«Ziel ist es, die Französischkenntnisse zu konsolidieren, eine berufliche Perspektive aufzuzeigen. Damit können sie auch finanziell selbständig werden. Man darf nicht vergessen, dass die beiden erst seit einem halben Jahr hier sind.»
Über ihre Vergangenheit im Gefängnis auf der Insel Kuba schweigen sie sich aus. Doch manchmal lassen sie Bemerkungen fallen. «Kürzlich sind wie Pizza essen gegangen», erzählt Charmillot. «Da haben sie gesagt, dass es Pizzas auch in Guantanamo gegeben habe.»
Bahtiyar möchte dieses Kapitel lieber hinter sich lassen, sagt er. Arkin hingegen habe grössere Schwierigkeiten im Umgang mit seiner Zeit im Gefängnis.
Zerstörtes Selbstvertrauen
Was sie während ihrer Gefängniszeit durchgemacht haben, sei nicht in Worte zu fassen und habe ihr Selbstvertrauen zerstört. «Sie sind unsicher und fragen ständig, ob das, was sie tun, in Ordnung sei. Man muss sie immer bestätigen. Hier gibt es tiefe Wunden, die die Zeit vielleicht heilen kann», sagt Charmillot.
Deshalb machen sie eine Therapie mit den AJAM-Spezialisten. Auch werden sie von einem Delegierten des Roten Kreuzes begleitet.
Für die ehemaligen Gefangenen, so IKRK-Sprecher Christian Gardon gegenüber swissinfo.ch, sei es wichtig, dass das Rote Kreuz seine in Guantanmo begonne Arbeit hier fortsetze.
«Sie sind zufrieden, dass einer unserer Delegierten sie auch im Aufnahmeland begleitet.» Ausserdem diene das Rote Kreuz auch als Kontakt zwischen ihnen und ihren Familien.
Der Umstand, von ihren Familien und ihrer Heimat getrennt zu sein, gehört sicher zu den grössten Schwierigkeiten, die sie zu überwinden haben. In Guantanamo war ihre Zukunft völlig unsicher. Jetzt, als Unschuldige und freigesprochen, müssen sie sich ein Leben auf den Trümmern ihrer Vergangenheit errichten.
Obschon ihr Wunsch, sich in ihrem Aufnahmeland zu integrieren, gross sei, hoffen sie doch, eines Tages ihre Familien wiederzusehen und in ihre Heimat zurückzukehren – so wie sich dies auch Endeli Memetkerim wünscht: «Wir warten darauf, zurückzukehren. Und der Tag wird kommen.»
Doch zumindest die beiden Brüder können nicht zurück nach China, weil sie dort als Terroristen gelten. China wollte auch verhindern, dass die beiden in der Schweiz aufgenommen werden und hatte den Bundesrat im Vorfeld in einem offenen Brief vor diesem Schritt gewarnt.
Laut Amnesty International konnten 67 Häftlinge Guantanamo verlassen, als Barack Obama sein Amt antrat.
38 durften in ihre Heimatländer zurück, rund 40 können das nicht, weil ihnen dort Folter und Gefängnis drohen.
Nebst den beiden uigurischen Brüdern hat die Schweiz Anfang Jahr einen Ex-Häftling aus Usbekistan in Genf aufgenommen.
Genf schweigt sich im Gegensatz zum Kanton Jura aus, um die Privatsphäre des Usbeken zu schützen.
Amtlich wird jedoch informiert: So verlaufe seine Integration in normalen Schritten, er habe keine spezifischen Probleme und nutze die Möglichkeiten, um sich ein neues Leben zu schaffen.
Autonomes Gebiet Chinas seit 1995.
Hauptstadt: Urumqi.
In Urumqi kam es im Sommer 2009 zu schweren Unruhen: Protestierende Uiguren und Han-Chinesen gerieten dabei aneinander.
Xinjiang, von den Uiguren Ost-Turkestan genannt, umfasst eine Fläche von 1,650’000 Quadratkilometern, das entspricht einem Sechstel ganz Chinas.
Xinjiang birgt einen Viertel der chinesischen Erdgas- und Erdölvorkommen und 40% der Kohle.
Die Region weist eine 5600 km lange Grenze auf, und grenzt an acht Länder, wovon fünf eine muslimische Mehrheit besitzen.
In rohstoffreichen Xinjiang leben rund 21 Mio. Menschen, davon über die Hälfte auf dem Land.
Laut offiziellen Statistiken sind 45% Uiguren, 41% Han-Chinesen, 7% Chazaken und 5% Hui.
Die Uiguren sind Muslime.
Uigur ist offizielle Regionalsprache, sie gehört zu den Turk-Sprachen.
(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)
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